The Myth of Persistence of Vision Revisited
Noch einmal: Der Mythos von der Trägheit des Auges
Joseph und Barbara Anderson*

Übersetzung: Sophie Repp

Vor mehreren Jahren schrieben wir einen Artikel mit dem Titel „Der Mythos von der Trägheit des Auges" („The Myth of Persistence of Vision"), der im Herbst 1978 im Journal of the University Film Association erschien (Anderson & Fisher). Darin präsentierten wir eine beträchtliche Anzahl von Belegen dafür, dass das Konzept von der „Trägheit des Auges" eine fehlerhafte und inadäquate Erklärung für die Scheinbewegung, die man im Film antrifft, ist. Damals dachten wir, dass unser Artikel dieses Thema ein für allemal abgeschlossen hätte. Wir hatten die Trägheit des Auges für tot erklärt. Und offen gesagt haben wir erwartet, diesen Begriff nie wieder zu hören außer vielleicht in einem historischen Kontext.

Heute, mehr als 15 Jahre später, werden wir erneut vom Mythos der Trägheit des Auges angezogen. Warum? Weil er noch immer mit uns ist. Wir lesen eine studentische Hausarbeit und uns schaudert. Wir besuchen den Vortrag eines erfahrenen Filmwissenschaftlers und uns schaudert. Uns schaudert nicht nur, weil sie die Idee von der Trägheit des Auges aufrechterhalten wollen, sondern weil sie anscheinend - selbst heute noch - ihre Tragweite nicht verstehen. Inzwischen scheinen die meisten Filmwissenschaftler gehört zu haben, dass der Begriff der „Trägheit des Auges" inadäquat ist. Einige haben ihn irrtümlicherweise durch den allgemein missverstandenen Begriff der „Phibewegung" zur Erklärung filmischer Bewegung ersetzt. Viele jedoch halten noch am Mythos fest.[i] Warum tun sich Filmleute damit so schwer, diese Idee fallen zu lassen?

Diejenigen, die sich mit Filmwissenschaft befassen, halten sich an der Trägheit des Auges fest, weil sie sie brauchen. Für Filmwissenschaftler ist sie der Mythos der Schöpfung. Er beantwortet unsere zentrale Frage vom Ursprung: Warum sind wir, wenn wir auf eine Folge von Einzelbildern auf der Leinwand oder auf dem Fernsehbildschirm sehen, in der Lage, ein sich kontinuierlich bewegendes Bild zu sehen? Wir antworten: „die Trägheit des Auges". Die Trägheit des Auges ist der Name, den man dem Wunder gegeben hat, durch das der Staub von Silberhalogeniden in der Fotografie zu greifbarer lebendiger Bewegung verwandelt wird.

Und genauso wie die Geschichte von Adam und Eva nicht nur die Mechanismen von der Entstehung und Fortpflanzung des Menschen erklärt, sondern auch das Verhältnis vom Menschen zu Gott, so erklärt der Schöpfungsmythos des Films nicht nur den Ursprung der Bewegung sondern auch das Verhältnis von Film zu Betrachter. Der Betrachter, auf den der Mythos von der Trägheit des Auges schließen lässt, ist ein passiver Betrachter, auf dessen schwerfälliger Netzhaut sich Bilder anhäufen.

Dudley Andrew hat bemerkt, dass „die Trägheit des Auges...assoziiert werden könnte mit einer psychoanalytischen Ansicht vom Geist, da das passive Auge die Wirkungen von Reizen wie ein mystischer Notizblock bewahrt, ein Palimpsest, das wie das Unterbewusste ist" (2). In der Tat haben psychoanalytisch-marxistische Filmwissenschaftler in den letzten 15 Jahren das Modell, das durch die Trägheit des Auges vermittelt wird, beibehalten: Ihr Betrachter ist ein passiver, ein Zuschauer, der „positioniert" ist, ahnungslos in den Text „vernäht", und der unter der „dominierenden" Ideologie zu leiden hat.

Warum sollen wir aber nun zum intellektuellen Schlachtfeld von anno dazumal zurückkehren und zwischen den umgefallenen Steinen umherlaufen? Weil die Beziehung zwischen Film und Betrachter wichtig ist. Nicht nur muss der Mechanismus von der Trägheit des Auges, der vorgab, die Illusion der Bewegung zu erklären, durch eine akkurate Beschreibung dieser Illusion ersetzt werden, sondern auch das Konzept des passiven Betrachters, das mit dem Mythos einhergeht, muss durch einen Betrachter ersetzt werden, der mit einem aufgeklärten Verständnis der Illusion zusammengeht: ein Bedeutung suchendes Wesen, das sich mit der fiktionalen Filmwelt genau so aktiv auseinandersetzt wie mit der wirklichen Welt. Die Ablehnung des Mechanismus' der Trägheit des Auges bedeutet eine Ablehnung des Mythos' von der Trägheit des Auges und der Passivität des Betrachters, die mit ihm einhergeht.

Daher sind wir gezwungen, einen zweiten Versuch zu unternehmen, die Trägheit des Auges zu entmythologisieren. Stellen wir wieder die Grundfrage: Warum sind wir, wenn wir auf eine Folge von Einzelbildern auf der Leinwand oder auf dem Fernsehbildschirm sehen, in der Lage, ein sich kontinuierlich bewegendes Bild zu sehen? Diese Frage lässt sich in zwei noch grundsätzlichere Fragen unterteilen: Warum ist das Bild kontinuierlich? Und warum bewegt es sich? Mit anderen Worten, warum erscheinen die einzelnen Bilder kontinuierlich und nicht periodisch aufleuchtend, wie sie es ja nach unserem Wissen tun? Und warum scheinen sich die Formen auf der Leinwand in geschmeidiger Bewegung zu bewegen, wenn wir doch wissen, dass es statische Bilder sind?

Erst im Nachhinein scheint sich das Problem in solch klar trennbare Kategorien aufteilen zu lassen: das Verschmelzen des flimmernden Lichts - in der Literatur zur Wahrnehmungspsychologie als Flimmerverschmelzung bezeichnet - und das Auftreten von Bewegung, Scheinbewegung genannt. Frühe Autoren, die vom schlaueren Nachhinein nicht profitieren konnten, haben diese beiden Fragen stets verworren.[ii]  

Eine typische Erklärung für die Trägheit des Auges hörte sich mehr oder weniger folgendermaßen an: Wenn dem menschlichen Auge eine schnelle Folge von wenig verschiedenen Bildern dargeboten wird, gibt es einen kurzen Moment, für den jedes Bild nach seinem Verschwinden auf der Netzhaut verbleibt, wodurch es sanft mit dem nächsten Bild verschmelzen kann. Eine solche Beschreibung kann vielleicht ansatzweise erklären, warum man meint, eine beständige Lichtquelle zu sehen (Flimmerverschmelzung), aber sie ist natürlich völlig inadäquat als Erklärung für die Illusion von Bewegung im Film. Die vorgeschlagene Verschmelzung von Bildern könnte höchstens die Übereinanderlagerung von aufeinanderfolgenden Bildern produzieren, wie in Marcel Duchamps Gemälde Akt, eine Treppe hinabsteigend oder in einem Bild aus Norman McLarens Pas de Deux. Das Ergebnis wäre eine Bilderstapelung oder bestenfalls eine statische Collage von übereinander gelegten Einzelbildern, nicht aber eine Bewegungsillusion. Es ist die so offensichtliche Unangemessenheit der Erklärung gepaart mit ihrer ständigen Wiederkehr in der Filmliteratur der beinahe letzten hundert Jahre, die einen denken macht und nach ihrem Ursprung und den Mitteln, mit denen sie bewahrt wurde, fragen lässt.

Frühe Versuche, die Bewegung im Film zu erklären

Die „Trägheit des Auges" fand aus zwei Gründen Eingang in die Filmliteratur: (1) mangelnde wissenschaftliche Sorgfalt unter den Filmtheoretikern und (2) ein ordentlicher Teil Verwirrung über die Natur der Scheinbewegung unter frühen Forschern an diesem Phänomen.

1926 schrieb der Filmhistoriker Terry Ramsaye die Entdeckung der Trägheit des Auges dem englisch-schweizerischen Arzt Peter Mark Roget zu und berichtete, dass Roget seine Ergebnisse der Royal Society in einem Aufsatz mit dem Titel „Die Trägheit des Auges in Bezug auf bewegliche Objekte" („Persistence of Vision with Regard to Moving Objects"; Ramsaye S. 10) präsentiert hatte.

Dreißig Jahre nach Ramsaye erwähnte ein weiterer Filmhistoriker, Arthur Knight, genau den gleichen Aufsatz und berichtete über die Verbreitung von Rogets Theorie über ganz Europa. Er listete eine Reihe von kinematographischen Spielzeugen auf, die dazu dienten, die „grundsätzliche Richtigkeit von Rogets Behauptung" zu beweisen, nämlich „dass das Bild durch eine Eigenheit des Auges für den Bruchteil einer Sekunde länger bewahrt wird, als es in Wirklichkeit erscheint", und versicherte dann, dass „das Vermögen der gesamten Filmindustrie auf dieser Eigenart des Auges aufbaut" (Knight, S. 14).

Ramsaye und Knight bezogen sich scheinbar auf einen Aufsatz, den Roget am 9. Dezember 1824 präsentiert hatte, und der den Titel „Erklärung einer optischen Täuschung im Erscheinen der Speichen eines Rades bei der Betrachtung durch vertikale Öffnungen" trug (Roget). In diesem Aufsatz berichtet Roget, dass, wenn man ein sich drehendes Rad durch eine Reihe senkrechter Schlitze betrachtet, „die Speichen des Rades anstatt gerade auszusehen, wie das normalerweise der Fall wäre, wenn keine Streifen dazwischen wären, einen beachtlichen Biegungsgrad aufweisen" (Roget, S. 135).

Obwohl die seitliche Bewegung des Rades zu sehen war, schien seine Rotation aufzuhören, und die gebogenen Speichen schienen an unveränderlicher Position fixiert zu sein. Roget erklärte, dass die Speichen des Rades, wenn sie hinter dem Gitter entlanglaufen, „auf dem Auge eine Spur einer durchgängigen gebogenen Linie hinterlassen und [...] gebogen erscheinen." Er verglich das Phänomen mit der

„Illusion, die entsteht, wenn ein helles Objekt schnell im Kreis herumgefahren wird und dabei einen Lichtstreifen, der den gesamten Kreisumfang spannt, entstehen lässt: und zwar, dass der Eindruck, der von einem Strahlenbündel auf der Netzhaut hinterlassen wird, wenn er stark genug ist, für eine bestimmte Zeit nach Beendung der Einwirkung zurückbleibt" (Roget, S. 135).

Es ist unwahrscheinlich, dass heute ein Psychologe versuchen würde, eine dieser Illusionen ausschließlich über die Verarbeitung auf der Netzhaut zu erklären, aber unabhängig von der relativen Korrektheit von Rogets Schlussfolgerungen geht es darum, dass die Illusionen, mit denen Roget sich beschäftigte, keine Illusionen von Scheinbewegung waren. Im Gegenteil, die Täuschung war, dass sich ein in Wirklichkeit bewegendes Rad stillzustehen schien. Trotzdem haben viele Filmwissenschaftler gerade auf diese Erklärung aufgebaut, wenn sie die Illusion von Bewegung im Film erklärt haben. 

In französischen Filmuntersuchungen nimmt Roget oft nur die zweite Stelle nach dem belgischen Physiker Joseph Plateau ein, dem man die Entdeckung des Prinzips der Trägheit des Auges zuschreibt.[iii] Anders als Roget beschäftigte sich Plateau in der Tat mit Illusionen von Scheinbewegung, und seine Erklärungen für die Trägheit des Netzhautbildes waren auch wirklich als Erklärungen für die Scheinbewegung gedacht.

1830 konstruierte Plateau ein Instrument, dass er „Phenakistaskoop" (wörtlich „Augentäuscher") nannte, womit aufeinanderfolgende, leicht verschiedene Bilder auf einer sich drehenden Scheibe, wenn sie durch einen senkrechten Schlitz betrachtet wurden, die Illusion kontinuierlicher Bewegung erzeugten. Das zugrundeliegende Prinzip der Täuschung war seiner Auffassung nach simpel:

„Wenn mehrere Objekte, die sich zunehmend in Form und Position unterscheiden, dem Auge in sehr kurzen Zeitabständen für eine sehr kurze Dauer dargeboten werden, werden die Bilder, die sie auf der Netzhaut hinterlassen, sich miteinander verbinden, ohne durcheinander gebracht zu werden, und man wird glauben, dass man ein einziges Objekt sieht, dass allmählich seine Form und Position verändert."[iv]

Aufgrund dieser Entdeckung hat der französische Filmhistoriker Georges Sadoul Plateau die Erklärung des Prinzips des modernen Kinos (oder genauer gesagt der Gesetzmäßigkeit, auf der Filmprojektion und -betrachtung fußt) zugeschrieben, und zwar schon im Jahre 1833 (Sadoul S. 25).

Bei seinem Versuch der Erklärung der Scheinbewegung basierte sich Plateau auf der Vorstellung von Verschmelzungen auf der Netzhaut. Eine genauere Untersuchung seiner Arbeiten, die sich über eine lange Laufbahn erstreckten, welche teilweise dem Studium der physiologischen Optik gewidmet war, bringt zwei weitere visuelle Phänomene zum Vorschein, die in späteren Abhandlungen über die Scheinbewegung mit Netzhautnachbildern assoziiert wurden: zum einen die Licht- und Farbmischung und zum anderen die Flimmerverschmelzung. In der Tat wurde eine allgemeine Vorstellung von „Verschmelzung" für die Erklärung der Bewegungsillusion von einer Reihe von Psychologen im späten 19. Jahrhundert herangezogen, wie zum Beispiel von William Stern, Karl Marbe und Ernst Durr.

1894 präsentierte William Stern eine der ersten allgemeinen Theorien über die Bewegungswahrnehmung, die auf einer Art Netzhautverschmelzung basierte. Stern formulierte drei Prinzipien der Bewegungswahrnehmung, von denen er eines als „die Grundbedingung der Wahrnehmung von Bewegung, wenn die Augen stillgehalten werden", betrachtete: bei einer Anordnung mit zwei Lichtpunkten soll ein positives Nachbild des ersten Lichtpunktes noch vorhanden sein, wenn der zweite Lichtpunkt erscheint. Stern behauptete, dass das fortdauernde Vorhandensein des positiven Nachbildes die Wahrnehmung kontinuierlicher Bewegung ermöglicht (Neff, S. 4).

Vier Jahre später skizzierte Karl Marbe seine Theorie über Bewegungswahrnehmung, die ebenfalls auf der Verschmelzung von Nachbildern aufbaute. Marbe reduzierte das Phänomen der Scheinbewegung auf die Verschmelzung sukzessiver periodischer Netzhautreitzungen und schlug vor, dass es ein Mindestintervall bei der Aufeinanderfolge von diskreten Stimuli gäbe, unterhalb derer Bewegung nicht wahrgenommen wird, genau wie es ein Mindestintervall periodisch auftretender Stimulationen gibt, unterhalb dessen es keine Flimmerverschmelzung gibt (Neff, S. 5).

1900 unternahm Ernst Durr einen ähnlichen Versuch zur Erklärung der Scheinbewegung als peripheres Phänomen (also als Netzhautphänomen). Wie Marbe ging er von der Verschmelzung von Nachbildern aus, ergänzte Marbes Prinzip aber um eine „Abhängigkeit von Fixierungsverlagerungen", d.h. der Augenbewegung. Nach Meinung Durrs sind sowohl die Verschmelzung der Nachbilder auf der Netzhaut als auch die Bewegungen des Auges wesentliche Bedingungen für die Wahrnehmung von Bewegung. Wenn der Blick sukzessiv aufeinanderfolgenden Reizen folgt, wird Bewegung gut wahrgenommen.

Der verallgemeinerte und ungenaue Gebrauch des Begriffes „Verschmelzung" in diesen Theorien macht die Erklärungen von der Trägheit des Auges in der Filmliteratur ebenso problematisch. Durrs Ansatz stellt den letzten Versuch der Psychologie dar, die Bewegungswahrnehmung ausschließlich über das periphere System zu erklären. Nach 1900 haben Psychologen Bewegung beinah ausnahmslos als ein prinzipiell zentrales Phänomen behandelt (d.h. es vollzieht sich im Gehirn oder im Zentralnervensystem). Doch der Geist der „Verschmelzung" lässt sich nicht so einfach bändigen.

Erklärungen der Scheinbewegung im 20. Jahrhundert

 1912 publizierte Max Wertheimer sein „Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung", das klassische Werk über Scheinbewegung, das als das grundsteinlegende Werk der Gestaltpsychologie gilt. In einer Reihe von Experimenten isolierte Wertheimer die seiner Ansicht nach drei Grundstufen der Scheinbewegung: (1) Betabewegung (man nimmt wahr, dass sich Objekt A über eine Strecke hinweg zu Position B bewegt), (2) Teilbewegung (man sieht, dass sich jedes Objekt eine kurze Strecke bewegt) und (3) Phibewegung (objektlose oder reine Bewegung).

„In einem klassischen Experiment präsentierte er [Wertheimer (1912)] zwei Lichtstreifen in kurzer Aufeinanderfolge. Wenn der zeitliche Abstand zwischen den Streifen genau richtig war, berichtete der Betrachter, dass er Bewegung sah - eine körperlose Bewegung, bei der sich die Linie nicht von einem Ort zum anderen bewegte. Obwohl der Betrachter nach wie vor unbewegliche Streifen sah, die abwechselnd aufblitzten, nahm er Bewegung zwischen den Streifen war. Dieses Phänomen kennt man heute als Phibewegung" (Kaufman 368).

In einer anderen Versuchsreihe widerlegte Wertheimer die „Spuren-" oder Nachbildtheorie überzeugend. Seine Schlussfolgerungen waren deutlich: „Es reicht nicht, sich auf rein periphere Vorgänge in einem einzelnen Auge zu beziehen: wir müssen uns den Vorgängen widmen, die hinter der Netzhaut liegen" (Wertheimer, S. 1084).

Theorien wie die Wertheimers, die einen zentralen Verschmelzungsprozess betonen, wurden in der frühen Filmliteratur zwar diskutiert, allerdings ohne viel Verständnis von den beteiligten physiologischen Mechanismen. Frederick A. Talbot bot beispielsweise in „Filme - wie sie gemacht werden und wie sie funktionieren („Moving Pictures: How They Are Made and Worked") einen Ansatz an, der das Thema Trägheit des Auges mit der Zugabe von ein wenig zentraler Verschmelzung variierte. Laut Talbot bedient sich der Filmemacher eines Mangels des menschlichen Auges: „Jenes wunderbare Organ hat einen Defekt, der als ‚Trägheit des Auges' bekannt ist" (Talbot, S. 3). Der Autor lieferte eine der schillerndsten Erklärungen für diesen so genannten Defekt:

„Das Auge an sich ist eine wunderbare Kamera... Das Bild wird im Auge fotografiert und von dort zum Gehirn übertragen... Wenn es das Gehirn erreicht, ist eine gewisse Zeit erforderlich, um seine Konstruktion herbeizuführen, denn das Gehirn ist so etwas wie eine Fotoplatte, und das Bild muss entwickelt werden. Hierbei ist das Gehirn aber etwas träge, denn wenn es das auf dem Auge abgelichtete Bild konstruiert hat, behält es das Bild selbst dann noch bei, wenn die Wirklichkeit dem Blick schon entschwunden ist" (S. 4).

Gemäß Talbot überblenden oder verschmelzen also zwei aufeinanderfolgende Bilder im Gehirn, was die Wahrnehmung gleichmäßiger, kontinuierlicher Bewegung ermöglicht. Im folgenden vergleicht er dann das Gehirn mit einem zeitgenössischen Apparat für die Projektion von Diapositiven, einer Variante der Laterna Magica, mit der sich ein Bild in das nächste „auflöst" (S. 5).

Talbot erhält also eine Erklärung für die Bewegungswahrnehmung aufrecht, die auf einem verallgemeinerten und ungenauen Verständnis des Begriffes „Verschmelzung" beruht. Trotz alledem spiegelt Talbots Darstellung die Bevorzugung einer zentralen statt einer peripheren Verschmelzung wider. Doch als Ramsaye und Sadoul in den zwanziger Jahren ihre Filmgeschichten schrieben, waren deren Varianten von der Trägheit des Auges wieder in eine rein netzhautbasierte Erklärung der Bewegungswahrnehmung zurückverfallen.

Hugo Münsterberg, ein Psychologe, der 1915 über den Film schrieb, kannte die damals aktuelle Forschung zur Bewegungswahrnehmung, und er kannte auch die Probleme bezüglich der Trägheit des Auges sehr gut:

„[Die gängige Erklärung für das Erscheinen von Bewegung war,] dass jedes Bild einer bestimmten Position im Auge ein Nachbild hinterließ, bis das nächste Bild mit der leicht geänderten Position des springenden Tieres oder der marschierenden Männer gesehen wurde, und das Nachbild dieses zweiten blieb, bis das dritte Bild kam. Die Nachbilder waren dafür verantwortlich, dass keine Unterbrechungen zu merken waren, wobei die Bewegung selbst einfach aus dem Übergang der einen Position in die andere hervorging... Das scheint sehr simpel, doch entdeckte man langsam, dass die Erklärung viel zu simpel ist, und dass sie nicht im mindestens der wahren Erfahrung gerecht wird (S. 5-26)."

Als alternative Erklärung schlug Münsterberg einen Vorgang des zentralen „Einfüllens" oder der „Implettierung" vor. Er behauptete, dass die zwei Stimuli einer traditionellen Anordnung zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten wahrgenommen werden, und dass der Betrachter im Geist die Lücke selbst füllt. Bewegung wird nicht „von außen gesehen, sondern wird hinzugefügt, durch die Tätigkeit des Geistes", (Münsterberg S. 29).

Münsterberg erkannte an, dass diese Hypothese an sich keine Erklärung zur Bewegungswahrnehmung war und schlug vor, „das Wesen der höheren zentralen Prozesse" durch systematisches Experimentieren im Labor zu klären. Leider starb Münsterberg im Jahr darauf, und seine Anregung, die Wahrnehmung von Bewegung im Film durch experimentelle Forschung zu verstehen zu versuchen, wurde gänzlich ignoriert.

Neuere Untersuchungen

In jüngerer Zeit haben Forscher verschiedener Disziplinen bei der Untersuchung von Fragen ihrer eigenen Gebiete ganz beiläufig Probleme wie das Phänomen der Bewegung im Film erhellt. Eine dieser Verbindungen tat sich auf, als Psychologen damit begannen, die Beziehung von Schein- und wirklicher Bewegung zu untersuchen. Sie prüften die Frage, ob Scheinbewegung und wirkliche Bewegung von unterschiedlichen Mechanismen herrühren. Diese Fragestellung, die zu einem besseren Verständnis von Bewegungswahrnehmung an sich führen sollte, ist direkt relevant für die Wahrnehmung des Films. Es gibt ja schließlich keine Bewegung auf der Leinwand. Es gibt nur eine Folge von Einzelbildern. Die Bewegung im Film ist das Ergebnis einer Transformation, die unser visuelles System ausführt. Eine Erklärung dieser Transformation wäre ein erster Schritt, um den umfassenden Komplex von Transformationen zu verstehen, die das menschliche Wahrnehmungssystem vollbringt, wenn ihm Filmbilder dargeboten werden.

In mehr als zwanzigjähriger Forschung hat sich Paul Kolers auf mehrere Aspekte konzentriert, wie sich Scheinbewegung und wirkliche Bewegung unterscheiden. 1971 testeten er und J.R. Pomerantz die Effekte des räumlichen Intervalls auf die Illusion von Bewegung. Sie fanden, dass beim Erscheinen von zwei Elementen auf der Leinwand in entsprechendem zeitlichen Abstand gute Scheinbewegung gesehen wurde. (Hier handelt es sich um die übliche Anordnung mit zwei Elementen, die den Grenzfall für Scheinbewegung darstellt.) Wenn 4, 8 oder 16 Elemente erschienen, wurde niemals eine gleichmäßige kontinuierliche Bewegung erzielt. Mit 32, 64 oder mehr Elementen wurde dann allerdings wieder eine gleichmäßige kontinuierliche Bewegung wahrgenommen. Wenn also das gleichmäßige Bewegungskontinuum als Funktion der Zahl der gezeigten Elemente genommen würde, wäre das Ergebnis eine u-Kurve.

Kolers schlussfolgerte daraus: „Scheinbar gibt es keine notwendige Verarbeitungskontinuität zwischen räumlich getrennten und räumlich aneinandergrenzenden Lichtpunkten. Die Mechanismen, mit denen das visuelle System die beiden Bewegungswahrnehmungen konstruiert, scheinen recht unterschiedlich zu sein" (S. 39). Kolers' Erklärung legt nahe, dass Anordnungen mit mehreren oder dicht aneinandergrenzenden Elementen möglicherweise über denselben Mechanismus funktionieren wie wirkliche Bewegung, wohingegen Anordnungen mit weiter auseinanderliegenden Elementen (die übliche Zweielementanordnung zur Demonstration von Scheinbewegung) anders verarbeitet werden.

Die beiden Typen der Scheinbewegung - also die Bewegungswahrnehmung bei Anordnungen mit mehreren oder enggestreuten Elementen und die Bewegungswahrnehmung bei Anordnungen mit weitgestreuten Elementen - sind unter den Namen short-range bzw. long-range bekannt geworden. Die Feststellung der bestimmenden Eigenschaften der beiden Prozesse stand in den letzten Jahren bei einem Großteil der Forschung zur Scheinbewegung im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Marguerite Biederman-Thorson, John Thorson und G. David Lange haben ihren Versuchspersonen beispielsweise zwei Punkte gezeigt, die so eng beieinander lagen, dass sie bei gleichzeitigem Aufblitzen als ein Punkt wahrgenommen wurden. Wenn diese beiden Punkte nacheinander gezeigt wurden, wurde deutlich Bewegung wahrgenommen.

So wie Kolers haben die Forscher daraus geschlossen, dass die Wahrnehmung von Bewegung bei sehr kleinem Punktabstand - d.h. bei short-range Scheinbewegung (die hier „feinkörnige (fine-grain) Illusion" genannt wird) - von anderen Mechanismen geleitet wird als Scheinbewegung, die von weiter auseinanderliegenden Reizen induziert wird. Darüber hinaus sagen sie auch ausdrücklich, dass feinkörnige Illusion auf der gleichen Grundlage wie die Wahrnehmung wirklicher Bewegung basieren könnte.

Oliver Braddick, der mit zufälligen Punktmustern gearbeitet hat, kam zu einem ähnlichen Schluss. Er zeigte, dass nur dann Bewegung zwischen zwei zufälligen Punktmustern wahrgenommen wird, wenn die Punkte um ca. 1/4 ° Sehwinkel oder weniger verschoben sind (Braddick). (Dieselbe räumliche Beschränkung wurde von Kolers und Pomerantz auch für die Wahrnehmung von Scheinbewegung in Mehrelementanordnungen vorgeschlagen.)

Weitere Evidenz für die Annahme, dass short-range und long-range Scheinbewegung von unterschiedlichen Mechanismen herrühren, kommt von der Tatsache, dass short-range Scheinbewegung Bewegungsnacheffekte erzeugen kann. Im wesentlichen ist es so, dass man nach der Betrachtung einer sich in eine Richtung bewegenden Anordnung (wie eine rotierende Spirale oder fließendes Wasser) beim anschließenden Betrachten einer unbeweglichen Anordnung eine langsame Bewegung der unbeweglichen Anordnung in die entgegengesetzte Richtung wahrnimmt. Diese Nacheffekte werden freilich auch von wirklicher Bewegung erzeugt, aber es konnte nicht nachgewiesen werden, dass sie auch durch long-range Scheinbewegung produziert werden können.

Im engen Zusammenhang mit der Erzeugung von Bewegungsnacheffekten steht die Tatsache, dass short-range Scheinbewegung einfache Bewegungsdetektoren im visuellen Kortex stimuliert. J. Timothy Petersik schlussfolgerte 1989 in einem Überblick über die Forschung zur Unterscheidung von zwei Prozessen bei der Scheinbewegung:

„Aufbauend auf die Untersuchungen, die ich hier besprochen habe, kann angenommen werden, dass sowohl short-range Scheinbewegung als auch long-range Scheinbewegung adäquate Stimuli für einfache neurale Bewegungsdetektoren sind, und dass long-range Scheinbewegung nur einen schwachen Stimulus für derartige Detektoren darstellt" (S. 118).

Um es noch einmal zu sagen, die Befundlage scheint darauf hinzudeuten, dass es einerseits eindeutige Unterschiede zwischen short-range und long-range Prozessen bei der Scheinbewegung gibt, und andererseits deutliche Ähnlichkeiten von short-range Scheinbewegung und der Wahrnehmung wirklicher Bewegung.

Es gibt auch medizinische Belege, die diese Unterscheidung unterstützen. Heute ist bekannt, dass Bewegung im menschlichen visuellen System unabhängig von Form und Farbe verarbeitet wird (Livingstone und Hubel). Bei Akinetopsie, einer Funktionsstörung, die von einer Verletzung in Areal V5 des prästriären Kortex herrührt, können keine beweglichen Objekte gesehen werden. Patienten, die unter diesem Zustand leiden, sehen weder die bewegliche Welt, noch verstehen sie sie. Sie haben keinerlei Schwierigkeiten, stillstehende Objekte zu sehen, doch die Objekte verschwinden, wenn sie sich bewegen.

Andere Patienten leiden unter Formwahrnehmungsversagen (oft begleitet durch Achromatopsie, d.h. die Welt wird nur in Grautönen wahrgenommen). Hier haben die Patienten Schwierigkeiten, Formen zu identifizieren, wenn sie stillstehen, doch viel weniger oder gar keine Schwierigkeiten, wenn sich die Formen in Bewegung befinden (Zeki). Für unsere Zwecke ist der interessanteste Aspekt dieser letzteren Störung die Vorliebe solcher Patienten, Fernsehen zu sehen.[v] Sie sind sozusagen blind für unbewegliche Bilder in der wirklichen Welt, können aber trotzdem die Aufeinanderfolge von unbeweglichen Bildern auf dem Fernsehbildschirm sehen. Scheinbar genügen die zeitlichen und räumlichen Parameter der Fernsehbilder für eine Einschaltung des bewegungsverarbeitenden Moduls des Gehirns.

Wie die medizinischen Darstellungen sind auch die Ergebnisse physiologischer Forschung mit der Hypothese, dass long-range und short-range Scheinbewegung verschiedene Phänomene sind, vereinbar. Margaret Livingstone und David Hubel (1988) entdeckten, dass es zwei anatomisch und funktional unterschiedliche Verarbeitungssysteme für das Sehen gibt. Eines bezeichnen sie als das Magnosystem, nach der Gruppe großer Zellen (magno), die sie im Corpus geniculatum laterale (CGL) fanden, das andere als Parvosystem, in Bezug auf die Gruppierung verhältnismäßig kleiner Zellen (parvo) ebenfalls im CGL. Die beiden Systeme sind vom Auge ab über die ersten Verarbeitungsstufen im Kortex bis hin zum CGL voneinander getrennt, teilen aber Informationen auf bestimmten Verarbeitungsstufen im Gehirn. Die beiden Systeme sind spezialisiert, und zwar verarbeitet das Magnosystem die Bewegung und Position von Objekten im Sehfeld, wohingegen das Parvosystem die Gestalt, Farbe und Oberflächeneigenschaften derselben Gegenstände verarbeitet.

Auf der Netzhaut reagieren bestimmte Rezeptorzellen (die Stäbchen) einfach auf Helligkeit, während andere (die Zäpfchen) differenziert auf Helligkeit reagieren, nämlich in Abhängigkeit von der Wellenlänge des Lichts (also der Farbe). Die Informationen über Helligkeit und Wellenlänge (Farbe) werden (im CGL) den Magno- und Parvokanälen zugeteilt, die in den unteren inneren Teil des visuellen Kortex des Gehirns weiterführen. Dort werden die Helligkeitssequenzen in Bewegung umgerechnet, und die Bewegungsinformation wird direkt zum mediotemporalen Areal weitergegeben, während die Helligkeitsinformation für die Tiefenberechnung zu den äußeren Schichten des visuellen Kortex weitergeleitet wird.

Gleichzeitig werden Signale von den Parvozellen des CGL im primären visuellen Kortex nach Farbe und Form sortiert und zur weiteren Verarbeitung zu den äußeren Schichten geschickt. Die äußeren Schichten des visuellen Kortex verarbeiten also Informationen über Tiefe, Form und Farbe und geben sie weiter an das mediotemporale Areal (und andere Areale), vermutlich um mit der Bewegungsinformation zusammengebracht zu werden, die dort über andere Wege angekommen ist.

Mit diesen Kenntnissen über visuelle Verarbeitung, die durch die Einsichten von Livingstone und Hubel ermöglicht wurden, lässt sich vermuten, dass aufgrund der direkten Auslösung der Verarbeitung wirklicher Bewegung durch das Magnosystem, die Verarbeitung von short-range Scheinbewegung und die Bewegung im Film ebenfalls vom Magnosystem ausgelöst werden, und dass long-range Scheinbewegung womöglich weniger direkt verarbeitet wird - vielleicht durch rückkehrende Verbindungen aus anderen Arealen, wie das bei der Wahrnehmung von Konturillusionen der Fall ist. Um diese Frage zu klären sind weitere Untersuchungen erforderlich.

Schlussfolgerung

Wenn das visuelle System tatsächlich zwei getrennte Verarbeitungsstrategien oder zwei getrennte anatomische Module für die Verarbeitung enggestreuter und weitgestreuter Stimuli aufweist, dann ist der Film der enggestreuten Kategorie zuzuordnen.[vi] Die Veränderungen von Bild zu Bild im „life-action" Kino sind klein - nicht einmal ein Bruchteil der üblicherweise experimentell erzeugten Scheinbewegung. Und Bewegung im Film entspricht deutlich nicht Wertheimers eigenartiger Phibewegung, bei der Bewegung scheinbar zwischen zwei weit auseinanderliegenden, nacheinander aufleuchtenden Linien induziert wird, die selbst als unbeweglich wahrgenommen werden.

Da wir wissen, dass sich die einzelnen Bilder eines Films nicht wirklich bewegen, und unsere Wahrnehmung von Bewegung deswegen eine Illusion ist, und da wir jetzt wissen, dass dieser Effekt nichts mit der Trägheit des Auges oder mit Phibewegung zu tun hat, schlagen wir vor, dass das Phänomen der Bewegung im Film in Zukunft so genannt wird wie in der Literatur zur Wahrnehmung: short-range Scheinbewegung.

Bewegung im Film ist, wie wir gesagt haben, eine Illusion, aber da sie der short-range oder feinkörnigen Kategorie entspricht, wird sie nach den Regeln dieses Systems umgewandelt, d.h. nach den Regeln für die Umwandlung echter kontinuierlicher Bewegung. Das menschliche visuelle System kann zwischen long-range und short-range Scheinbewegung unterscheiden (und tut das auch), aber scheinbar kann es nicht unterscheiden zwischen short-range Scheinbewegung und wirklicher Bewegung. Für das visuelle System ist die Bewegung im Film wirkliche Bewegung.

Wenn das stimmt, wenn die aufeinanderfolgenden Einzelbilder im Film von unserer Wahrnehmung genauso verarbeitet werden wie die ungebrochene Bewegung der natürlichen Welt und davon nicht unterscheidbar sind, was bedeutet das? Wie muss eine Filmtheorie modifiziert werden, um solchen Erkenntnissen Rechnung zu tragen? Wir müssen freilich unsere Hausaufgaben machen und neuere Filmtheorien im Lichte des neuen Paradigmas neu bewerten. Man würde beispielsweise erwarten, dass Christian Metz' frühe Behauptung in Filmsprache gestützt wird, nämlich dass Bewegung im Film keine Repräsentation sondern eine Präsentation, keine Wiedererfahrung sondern die Erfahrung der Bewegung ist (Metz S. 7-9). Gleichermaßen würde man die Bloßstellung der grundsätzlichen Bedeutungslosigkeit von Jean-Louis Baudrys Sorge über das Auslöschen von Unterschieden sowie das Unterdrücken der „Diskontinuität, die durch die Kamera vorgegeben ist" (d.h. die Lücken zwischen den Einzelbildern des Films; Baudry) erwarten.

Unabhängig von diesen Hausaufgaben ergeben sich mindestens zwei wichtige Folgen aus der Entmythologisierung der Trägheit des Auges. Erstens muss „die Trägheit des Auges" - der Begriff, das Konzept, der Mythos - einen Platz in der Geschichte der Filmwissenschaft erhalten, sie darf aber nicht mehr im Umlauf der Filmtheorie bleiben. Die Zeit ist ganz sicher gekommen, da nur noch die Schöpfungsverfechter unter uns sich am Mythos von der Trägheit des Auges als wirkliche Erklärung für die Existenz des Films festhalten.

Zweitens, und dies ist noch wichtiger, das Konzept vom passiven Betrachter, dass der Mythos mit sich bringt, von demjenigen, auf dessen träge Netzhaut (oder dessen träges Gehirn) sich die Bilder stapeln, muss ersetzt werden durch ein aufgeklärtes Verständnis davon, wie Zuschauer eigentlich mit Film umgehen. Wenn der Zuschauer die Bewegung im Film genau so verarbeitet, wie wir Bewegung in der richtigen Welt wahrnehmen, dann müssen wir fragen, wie wir Bewegung in der richtigen Welt wahrnehmen. Kurz gesagt verarbeiten wir Bewegung auf eine aktive, Bedeutung suchende Art und Weise. Wir nehmen die Welt um uns herum rasch auf, bemerken die Dinge, die sich ändern, und die, die sich nicht ändern. Wir drehen unseren Kopf, um eine bessere Sicht zu bekommen. Wir bewegen uns nach links oder rechts, um zusätzliche Informationen durch einen anderen Blickwinkel zu erlangen. Wir gehen näher heran oder weiter weg. Wir streben aktiv nach Informationen über Dinge, die uns interessieren. Wir streben nach größerer Klarheit sowohl über das Sehen als auch über das Verstehen.

Anderson, Barbara / Anderson, Joseph (1993) The Myth of Persistence of Vision Revisited. In: Journal of Film and Video 45 (Spring 1993), S. 3-12. Übersetzung: Sophie Repp. Typoskript Sltudiengang Schnitt / Montage - HFF-Potsdam.

Anmerkungen

* Joseph und Barbara Anderson haben umfassend über Filmtheorie geschrieben. Er ist Professor an der University of Kansas und Autor des demnächst erscheinenden Buches The Reality of Illusion: An Ecological Approach to Cognitive Film Theory (Die Wirklichkeit der Illusion: Ein ökologischer Ansatz in Kognitiver Filmtheorie).

[i] Siehe Kaufman S. 368 für eine Erklärung des „Phiphänomens".

[ii] Teile dieses historischen Überblicks wurden in Anderson und Anderson, S. 76-95 dargebracht.

[iii] Vgl. z.B. Bazin, Sadoul und Potonniee.

[iv] Plateau, zitiert in Sadoul 1:25: „Si plusieurs objets différant entre eux graduellement de forme et de position se montrent successivement devant l'oeil pendant des intervalles très courts et suffisamment rapproches, les impressions qu'ils produisent sur la rétine se lieront entre elles sans se confondre, et l'on croira voir un seul objet changeant graduellement de forme et de position."

[v] Zur Besprechung von Arbeiten von Rudiger von der Heydt und Esther Peterhans über die Reaktion von Zellen in V1 und V2 auf Konturillusionen, siehe Zeki S. 76.

[vi] Beim Film entsprechen die Reihe schnell dargebotener, eng beieinanderliegender Bilder, die Dauer jedes Bildes (34,72 ms mit zwei Unterbrechungen von jeweils 6,95 ms) sowie die räumliche Verschiebung von einem Einzelbild zum nächsten (im allgemeinen weniger als 15° des Sehwinkels) gut den Parametern der short-range Scheinbewegung.

Referenzen

Anderson, Joseph und Barbara Anderson (1980): „Motion Perception in Motion Pictures." in Teresa DeLauretis und Stephen Heath (Hrsg.): The Cinematic Apparatus. New York: St. Martin's. Press, S. 76-95.

Anderson, Joseph und Barbara Fisher (1978): "The Myth of Persistence of Vision." in Journal of the University Film Association 30.4 (Fall), S. 3-8.

Andrew, Dudley (1989): "Cognitivism: Quests and questionings." in Iris 9 (Spring), S. 1-10.

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