Stephen Lowry

Film - Wahrnehmung - Subjekt 

Theorien des Filmzuschauers

In: montage/av    1/1/1992, S. 118 - 126

1. Zwei Richtungen der neueren Filmtheorie

Zwei Richtungen der Filmtheorie - die neoformalistische, kognitive Theorie einerseits und die poststrukturalistisch-psychoanalytische Theorie andererseits - bieten zwei stark divergierende Beschreibungen des Filmzuschauers. In den letzten Jahren sind diese Ansätze als Kontrahenten in oft recht polemischen Auseinandersetzungenaufgetreten. Ich denke hier vor allem an Noel Carrolls Attacken in Mystifying Movies (Carroll 1988) und die Debatte zwischen Barry King (1986, 1988) und David Bordwell (1988), Kristin Thompson (1988) und Janet Staiger (1988) in der Zeitschrift Screen. In diesem Artikel werde ich versuchen, die Reichweiten und Grenzen dieser Modelle zu skizzieren und zu überlegen, wie beide Richtungen gemeinsam zum Verständnis der Filmrezeption beitragen können. Dabei geht es mir vor allem darum, die Wirkung eines Films sowie die interpretative Arbeit der Zuschauer und Zuschauerinnen im historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontext zu verstehen.

Die beiden Ansätze konzipieren das Film-Zuschauer-Verhältnis auf sehr unterschiedliche Weise. Von bewußten, rationalen Operationen eines denkenden Ichs ausgehend, fragt die kognitive Theorie, was der Zuschauer mit dem Film macht, um ihn zu verstehen, bzw. wie der Film strukturiert ist, damit er verstanden werden kann. Die poststrukturalistischen Theorien hingegen betrachten das zuschauende Subjekt in erster Linie als durch unbewußte Faktoren determiniert. Entsprechend wird gefragt, was der Film mit dem Zuschauer macht. So liegt der Schwerpunkt auf denpsychischen, ideologischen oder geschlechtsspezifischen Effekten des Films.

Trotz all ihrer Unterschiede in Fragestellungen, Methoden und Zielen halte ich diese Modelle nicht für unverträglich. Jeder Ansatz erfaßt einen anderen, unvollständigenTeilaspekt des Gesamtproblems der Interaktion zwischen Zuschauern und Filmen.

Filme-Sehen besteht aus Verstehen und Miterleben, Nachvollziehen und Identifizieren und geschieht vor einem Horizont aus verschiedenen Diskursen – intrafilmischen, intertextuellen und extrafilmischen. In diesem Rahmen schließen sich aktives Verstehen seitens des Subjekts und ideologische Effekte des Films keineswegs aus. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, daß die bei den Ansätze sich gegenseitig ergänzenkönnen. Das wird aber nicht durch eine einfache additive Synthese möglich sein, sondern durch eine Einordnung in einem umfassenderen Rahmen.

Einen solchen Rahmen hat bisher weder die eine noch die andere Richtung derFilmtheorie geliefert. Die kognitive Perspektive bleibt tendenziell auf deskriptiveModelle der Zuschauertätigkeit und des Filmstils beschränkt, während die poststrukturalistische Theorie zwar weitergehende Fragen anschneidet, aber ofteinseitige, abstrakte und universalisierte Antworten darauf gibt. Mein Interesse zielthier auf eine umfassendere hermeneutische Fragestellung, die versucht, verschiedene Aspekte des Verhältnisses zwischen Zuschauer und Film als eine besondere Form des Verhältnisses zwischen Subjekt und Kultur zu begreifen. Dabei ist Hermeneutik nicht als Annäherung an einen ursprünglichen Sinn zu verstehen, sondern als Interpretationder sozialen Konstruktion von kulturellen Bedeutungen. Eine solche Fragestellung kann sich weder mit einem Modell des einfachen Verstehens eines Films noch mit einem Modell der einseitigen Determinierung des Zuschauers durch den Film bzw. das Kino zufriedengeben. Vielmehr geht es um eine dialektische Vorstellung des Subjekts im Verhältnis zum kulturellen Text. Meine These ist, daß diese beidentheoretischen Ansätze zur weiteren Entwicklung verschiedener Aspekte dieser Fragestellung beitragen können. Ich betone, daß es hierbei um eine Fragestellung und nicht eine fertige Theorie geht, auch wenn ich zum Schluß einige Hinweise gebenwerde, welche Richtungen eine kulturelle Hermeneutik des Films einschlagen könnte.

2. Kognitive und neoformalistische Theorien

Unter der Rubrik kognitiv-neoformalistischer Theorien könnte man verschiedeneArbeiten einordnen; ich orientiere mich hier vor allem an der Richtung, die Bordwell und seine Mitarbeiterinnen vorgegeben haben (Bordwell 1985, Bordwell/Thompson1979, Bordwell/Staiger/Thompson 1985). Insbesondere der Bezug zu historischenFragen der Filmform scheint mir wichtig bei diesen Arbeiten. Dadurch ergeben sich Anknüpfungspunkte, die z.B. bei experimentell ausgerichteten kognitivenUntersuchungen fehlen. Die Arbeit von Peter Wuss bringt, wenn auch aus einer etwas anderen Richtung, eine interessante Erweiterung der kognitiven Theoriebildung in Hinblick auf den Film und öffnet sich – insbesondere durch die Kategorie der filmischen "Stereotypenstruktur" – für semantische und hermeneutische Fragestellungen (Wuss 1990a,1990b).1

Der neoformalistische Ansatz untersucht, wie Zuschauer und Zuschauerinnen verschiedene kognitive Tätigkeiten ausführen, um die Erzählung eines Films zuverstehen. Sie filtern die wesentlichen Informationen aus der Vielzahl von Bildern, Handlungen und Dingen, die gezeigt werden. Aufgrund dieser Informationen ziehen sie induktive Schlüsse, stellen Hypothesen auf und überprüfen sie. An der Film-Form ist entscheidend, wie sie die Interpretation der Erzählung steuert. Institutionalisiert und konventionalisiert, Z.B. im classical Hollywood style, können nicht nur Handlungsmuster, sondern alle Formelemente – Licht, Ton, Musik, Schnitt etc. – zumVerständnis des Films beitragen. Diese sind aber offene Strukturen – eben Konventionen und nicht Codes –, daher können auch Innovationen und Abweichungen vor diesem Hintergrund verstanden werden.2  Wuss zeigt, daß auch innerhalb eines Films kognitive Strukturen – in seiner Terminologie "perzeptiv geleitete Tiefen-Strukturen" – aufgebaut werden, die sinnbildend für die Erzählung wirken (Wuss 1990b, 13).3

Ein typisches Muster der Filmrezeption verläuft so: In der Expositionsphase werden Figuren und ein Handlungskern etabliert. Die Zuschauer stellen Hypothesen über die weitere Entwicklung und den eventuellen Ausgang auf, die sie bei jeder neuen Information revidieren oder bestätigt sehen. Bei der Mikrostruktur - also innerhalb einer Sequenz oder Einstellung - verhält es sich ähnlich. Bei einer Schuß-Gegenschuß-Sequenz z.B. formt die Konvention unsere Erwartung, nach einer ersten Nah-Einstellung den Gegenschuß zu sehen, insbesondere wenn ein Anschluß über Blickrichtungen ihn angekündigt hat. Diese Erwartung kann auch enttäuscht werden, in einem solchen Fall werden wir aber auch das zu deuten wissen. So konstruieren die Zuschauer eine Geschichte ("Fabel" in der formalistischen Terminologie) aus dem Rohmaterial des "Sujets" (Bordwell 1985, 49ff).

Diese Erklärung ist einleuchtend und logisch; sachliche Einwände scheinen kaummöglich. Allerdings sind die Grenzen dieses Ansatzes relativ eng: Erstens müssenkognitive Theorien auf das Vorwissen des Zuschauers verweisen, das aber außerhalbder Erklärungsmöglichkeit der Theorie steht; zweitens werden affektive Wirkungenoft vernachlässigt oder aus methodischen Überlegungen explizit ausgeklammert (z.B.Bordwell 1985, 30; Ohler 1990,44).

Die kognitive Psychologie befaßt sich zwar mit Emotionen, aber die Frage deremotionalen Wirkung ist in den Filmtheorien noch weitgehend offen (Bordwell 1989,32).

In ihren neoformalistischen Varianten tendiert die kognitive Filmtheorie dazu, Vorwissen vor allem im Sinne verinnerlichter Muster der Filmform zu berücksichtigen. Diese Muster werden als automatisierte und im Gedächtnis internalisierte Datenstrukturen oder "Schemata" aufgefaßt, welche die Informationsverarbeitung organisieren (Ohler 1990). Formelemente, Genres, Stereotypenetc. können als Schemata fungieren, die Zuschauer nutzen, um Filme zu verstehen. Die kognitive Theorie weist aber auch darauf hin, daß solche spezifisch filmbezogenen Elemente nur einen Teil des gesamten Vorwissens (neben "generellem Weltwissen" und "narrativem Wissen") bilden, das zur Konstruktion des Sinns einesFilms herangezogen wird (Ohler 1990, 47). An dieser Stelle muß sich die kognitive Perspektive zu Fragen der intersubjektiven (gesellschaftlichen, kulturellen undgruppenspezifischen) Vermittlung von Sinn und Wissen öffnen (Bordwell 1989, 2832), wie dies zum Teil in der Schematheorie geschieht (Arbib/Hesse 1986). Es bleibt aber zu fragen, ob der kognitive Ansatz in der Filmtheorie nicht durch seine Voraussetzungen eine unnötig enge Eingrenzung der Fragestellung vornimmt. Insbesondere der Hang zu naturalistischen Erklärungen, die Tendenz, sich gegen eine hermeneutische Herangehensweise abzugrenzen, und die Konzentration auf rationalistische Modelle schränken die Reichweite des kognitiven Ansatzes in bezugauf breitere kulturelle Fragen ein.

Die grundsätzliche Frage dreht sich um die Definition des Subjekts: es steht zur Debatte, ob das Subjekt tendenziell ein relativ neutrales, zweckgerichtetes, rationalesWesen ist, das Schemata und Vorwissen benutzt, um Information zu verarbeiten und einen Text zu verstehen, oder ob das Subjekt nicht viel enger in den kulturellen und sozialen Systemen von Signifikation verstrickt und auch durch sie definiert ist. Wenn, wie ich meine, das Zweite der Fall ist, kann die kognitive Perspektive Teilerklärungen liefern, die aber in einem größeren Kontext situiert werden müssen, wenn sie in Zusammenhang mit historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Fragen relevant sein sollen. Sie kann zur Erklärung beitragen, wie Zuschauer Filme interpretieren, aber die Interpretation selbst – ob in Form alltäglichen Verstehens oder mit wissenschaftlichem Anspruch – findet in einem wesentlichen größeren Rahmen statt, in dem kulturelle und ideologische Vorgänge genauso eine Rolle spielen wie kognitive. Damit wird aber die kognitive Fragestellung wieder zu einem Teilbereich eines größeren - letztlich hermeneutischen – Umfeldes.

Die Ausklammerung der affektiven Komponenten des Zuschauens ist problematisch, insbesondere, wenn die Theorie gegenüber anderen zu einem exklusiven Erklärungsmodell erhoben wird.4 Eine Definition und heuristische Eingrenzung des theoretischen Gegenstandes ist natürlich notwendig, nur folgt daraus oft auch eine Einschränkung der Tragweite und Anschlußfähigkeit. Der kognitiveAnsatz kann vielleicht erklären, wie ich einen Film verstehe, nicht aber, warum ich ihn überhaupt anschaue. Daß ich Hypothesen über die weitere Handlung aufstelle, läßt sich kognitiv erklären, aber nicht, warum ich mich für den Ausgang interessiere, was ich dabei fühle oder was für ein Ende ich mir wünsche. Wesentlich schwieriger ist die Frage, ob sich die Trennung kognitiv/affektiv überhaupt so scharf ziehen läßt, ob nicht emotionale Faktoren, Wunschvorstellungen und Identifikation bereits von vornherein die kognitive Aufnahme des Films beeinflussen. Eine umfassendere Theorie der rezeptiven Zuschauer-Tätigkeit müßte Modelle für die Interaktion kognitiver und affektiver Faktoren entwickeln.

3. Post-Strukturalistische Theorien

Auf diese sehr breitgefächerte Theorierichtung, die sich zudem auf verschiedene Basistheorien der Psychoanalyse, der Semiotik und des Marxismus beruft, werde ich hier nur punktuell eingehen. Der Deutlichkeit halber wähle ich als Beispiele vor allem frühe Formulierungen, die dazu neigen, ihren Standpunkt krasser zu formulieren. So treten die Konturen der Theorieansätze schärfer hervor, wenn auch die Gegensätze zurkognitiven Richtung stärker erscheinen als es dem heutigen Stand der Entwicklungentspricht.

3.1 Grundlagen

Die post-strukturalistische Theorierichtung ist aus semiotischen Ansätzen entwickelt worden, die Zeichen und Syntax des Films zu klassifizieren versucht hatten und diegewissermaßen in Metzt "grande syntagmatique" einen Endpunkt fanden. Die Hinwendung zu einer Theorie des Zuschauers erfolgte durch die Integration der Psychoanalyse Lacans und insbesondere durch die Übernahme der Ideologietheorie Althussers.

Lacan wandte sich gegen die Ich-Psychologie und den Begriff eines souveränen,selbst-identischen Subjekts, indem er die konstitutive Rolle des Unbewußten in der Entwicklung des Ichs betonte. Schon die erste Formation einer Identität beim Baby seieine Identifikation mit etwas Anderem - mit dem eigenen Spiegelbild oder der Gestalt eines anderen Mensehen. Lacan nennt diese Phase das "Spiegelstadium", in dem dasSubjekt sich dadurch konstituiert, daß es sich mit dem Bild einer Ganzheit identifiziert, die es selbst nicht hat (Lacan 1973, 63-70). Diese Identifikation ist imaginär – im doppelten Sinne als Idealbild (image) und Illusion. Zugleich ist sie Voraussetzung dafür, daß das Subjekt sich als Einheit, als Ich begreifen kann. Diese Struktur der notwendigen Selbstverkennung bleibt laut Lacan grundlegend für die weitere "Identitäts"-Bildung, da diese immer wieder durch Identifikationen als Introjektion von Außen – geschieht.

Eine zweite Phase der Entwicklung beginnt mit dem Eintritt in die "Symbolische Ordnung". Damit meint Lacan einerseits die Sprache, andererseits die Regeln aller sozialen Beziehungen. Beispielsweise ist die Annahme einer Geschlechtsrolle in der ödipalen Situation zentral für die symbolische Definition des Individuums. Die symbolische Ordnung ermöglicht erst die Formulierung des Begehrens und damit eine Äußerung des Subjekts; dadurch ist das Subjekt aber auch dem Diskurs unterworfen. Das Baby wird benannt, bevor es selber sprechen kann; sein Platz in familiären und symbolischen Beziehungen ist vorgegeben, bevor es ihn aktiv einnehmen kann.

Althussers Definition der Ideologie stützt sich vor allem auf den Begriff des Imaginären. Nach Althusser ist Ideologie nicht im Sinne von "falschem Bewußtsein" zu verstehen, sondern ihre primäre Funktion liegt darin, die soziale Identität der Menschen zu bestimmen:. "Jede Ideologie hat als Funktion (die sie definiert), konkrete Individuen als Subjekte zu konstituieren" (Althusser 1976, 110; Übersetzung S.L.). Kulturelle Strukturen und soziale Institutionen "interpellieren" (im Sinne von adressieren oder ansprechen) Individuen als Subjekte in bestimmten sozialen Rollen. Sie weisen ihnen eine Identität zu und vermitteln ein ideologisches, "imaginäresVerhältnis der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen" (ebd., 101). Dieser Begriff der Zuweisung einer "Subjekt-Position" wurde zum zentralen Bestandteil der poststrukturalistischen Filmtheorie.

3.2 Apparatus-Theorien

Eine frühe Formulierung, wie Filme Zuschauern eine Subjekt-Position zuweisen, fand sich in der sogenannten Apparatus- Theorie, z.B. bei Jean Louis Baudry. Er geht von der These aus, daß bereits die technische Grundlage des Kinos "spezifischeideologische Effekte" produziere (Baudry 1974/75,41). Diese Effekte bestehen darin, daß der Zuschauer im Verhältnis zum Gesehenen eine Mittelpunktsposition einnehme, aus der die Welt zentriert und zusammenhängend erscheine. Baudry vergleicht die Kino-Projektion mit Platons Höhlengleichnis, mit dem Traum und mit der von Lacan beschriebenen imaginären Identifikation. Der Film erscheine einheitlich und kohärent und unterstütze die Illusion,  die Welt so begreifen zu können. Dadurch habe der Film den ideologischen Effekt, den Zuschauer als ein "transzendentales Subjekt" im Sinne des Cartesianischen "Cogito" zu konstituieren (Baudry 1974175,46).

Daß "eine Argumentation, die 2000 Jahre [also von Platon bis heute] souverän überbrückt, [...] sich leicht dem Vorwurf aus[setzt), die geschichtliche Situiertheit der untersuchten Gegenstände zu vernachlässigen", hat Hartmut Winkler festgestellt (1990, 23). Auch ist verschiedentlich bemerkt worden, daß die Theorie auf einem fragwürdigen Verfahren der Analogiebildung beruhe, wobei ein abstraktes Konzept des Zuschauers entwickelt werde, das empirisch und argumentativ nicht begründet sei.

Ich will hier an einem anderen Punkt ansetzen und fragen, was diese Theorie mit einem konkreten Film zu tun hat. Um es kurz zu machen, die Antwort lautet: so gut wie nichts. Baudry schreibt selbst: "die benutzten Formen der Erzählung, die 'Inhalte'der Bilder sind unwichtig, so lange die Identifikation möglich bleibt" (Baudry1974175, 46). Die Theorie stellt eine strukturelle Ideologie fest, die prinzipiell bei jedem Film gleich sei. Die "Kino-Apparatur" wird aber so zum ontologischen Konstrukt. Daß auf dieser Ebene der Abstraktion kaum etwas über die konkrete Rezeption eines Films gesagt werden kann, liegt auf der Hand. Fairerweise muß man bemerken, daß es nicht die Intention der Theorie war,  einzelne Filme oder deren Rezeption zu analysieren. Allerdings setzt sich eine solche Theorie des Kinos und des Zuschauens dem Vorwurf des Idealismus aus, wenn sie die konkreten Zuschauer und ihre sehr unterschiedlichen und differenzierten Kinoerlebnisse unter einem abstrakten Modell subsumiert. Dennoch ist dieser Ansatz wichtig gewesen, da er die Frage nach Ideologie im Sinne von Strukturen einer Kommunikationsform überhaupt erst gestellt hat.

3.3 Imaginäre Identifikation, "Sutur"

Christian Metz hat eine Theorie der filmischen Identifikation entwickelt, die in mancher Hinsicht der Position von Baudry nahe kommt. Auch Metz (1977) stellt fest, daß die primäre Form der Identifikation im Kino eine Identifikation mit dem eigenen Blick, mit einer "allwissenden" Position im Verhältnis zur filmischen Signifikation sei. Psychologisch sei diese Identifikation sekundär, da dem Zuschauer bewußt ist, daß er im Kino sitzt und schaut. Eine strukturelle Ähnlichkeit zur ersten Identifikation mit dem Spiegelbild bestehe aber doch, denn die Kino-Identifikation "mit sich selbst als reinem Akt der Wahrnehmung" sei auch eine imaginäre. Die Identifikation mit dem eigenen Blick hänge mit der Identifikation mit der Kamera zusammen, die wiederum mit weiteren sekundären bzw. tertiären Identifikationen – mit den Blicken der Figuren usw. – verknüpft sein kann.

So wird dem Zuschauer eine illusionäre Perspektive auf eine fiktionale Realität vorgegeben. "Die Kamera schreibt also weitgehend vor, wie der Blick des Zuschauers ausgerichtet wird, welche Bewegung er einschlägt, wohin er sich wendet [...]" (Koch1989, 17). Die Identifikation mit der Kamera erlaube dem Zuschauer, sich als Subjekt des Films zu fühlen; sie produziere eine Illusion der Selbstsicherheit, des Wissens, der Macht über das Gesehene.

Aufgegriffen und erweitert wurde dieser Ansatz in Theorien der "Sutur". Dieser Begriff wurde zunächst von Jacques-Alain Miller im Seminar von Lacan formuliert (Miller 1977178). Wörtlich bezeichnet "Sutur" eine chirurgische Naht; im System der Lacanschen Theorie ist die Verknüpfung vom Subjekt mit dem Symbolischen, mit der Kette der Signifikation,  gemeint. Dieser komplizierte Begriff wurde von Jean-Pierre Oudart angewandt, um den Prozeß der Artikulation der Beziehung zwischen dem Zuschauer und der filmischen Signifikation zu beschreiben (Oudart 1977/78). Waren bereits bei Oudart gewisse Verschiebungen zu vermerken (Heath 1977178), wurde der Begriff im bekannten und einflußreichen Aufsatz von Daniel Dayan "The Tutor-Code of Classical Cinema" (1976) weiter vereinfacht. Um seine These hier noch weiter zu vergröbern: "Sutur" ist die Operation im Film – vor allem in Schuß-Gegenschuß-Einstellungen – bei der der Zuschauer in das System der filmischen Blicke"eingenäht" oder "verschweißt" wird. Er stehe zunächst in einer imaginären Position der Souveränität dem Bild gegenüber. Da das Bild jedoch nur einen Ausschnitt zeigt und aus einer bestimmten Perspektive aufgenommen ist, könnte dies störend bewußt werden. Dagegen wirke aber der Gegenschuß, der diese Perspektive einer Figur oder zumindest einer Position im Film zuschreibe. Auf diese Art werde der Zuschauer in die Erzählung hineingezogen, und gleichzeitig werde die Qualität des Films als Gemachtes, als Repräsentation maskiert. Die Illusion der Realität werde verstärkt und der Zuschauer so auf eine ideologische Position "interpelliert".

By means of the suture, the film-discourse presents itself as a product without aproducer, a discourse without an origin. It speaks. Who speaks? Things speak for themselves and of course, they tell the truth. Classical einema establishes itself as the ventriloquist of ideology (Dayan 1976, 451).

Es ist evident, daß die Theorie in dieser Form empirisch nicht haltbar ist. Weder ist das Schuß-Gegenschuß-Muster überall zu finden, noch besteht es immer aus POVshots, noch läßt sich daraus eine globale ideologische Funktion herleiten (Rothman1976,451-459). Dennoch gehört der Begriff "Sutur" nicht unbedingt auf den theoretischen Schrotthaufen geworfen. Andere - vor allem Stephen Heath - haben ihn differenzierter, aber zugleich weitaus komplizierter angewendet, um das Verhältniss zwischen Zuschauer und Film zu bezeichnen (Heath 1981, 119-120; vgl. auchLapsley/Westlake 1988). Der Zuschauer übernimmt nicht unbedingt die Sicht der Kamera, sondern jongliert mit verschiedenen Sichtweisen, um den Film nachzuvollziehen, zu beurteilen und mitzufühlen (Browne 1985). So müßte nicht nur das Verstehen des Films, sondern auch die Identifikation als aktiver Prozeß verstanden werden, nicht als einfacher Reflex des Apparates oder der "Sutur".

3.4 Mulveys Kritik der männlichen Schaulust

Eine kritische Wendung erfuhr die psychoanalytische Zuschauertheorie, als Laura Mulvey ihr eine feministische Umdeutung in ihrem inzwischen vielzitierten Artikel "Visuelle Lust und narratives Kino" gab (Mulvey 1980). Ihr entscheidender Schritt war, die subjektiven Effekte des Kinos als geschlechtsspezifisch differenzierte zusehen. Ihre These lautet, daß die Blickinszenierung im Film die Zuschauer in männlichen Sehweisen und Perspektiven situiert. Die Lust am Kino entstehe in erster Linie aus "der geschickten und befriedigenden Manipulation der visuellen Lust"(Mulvey 1980,32).  Diese habe zwei Komponenten: die objektbezogene Schaulust und die narzißtische Lust an der Identifikation. Die gesellschaftliche Teilung der Geschlechterrollen bestimme auch eine Spaltung der Schaulust in "aktiv/ männlich und passiv/weiblich": "Die Frau als Bild, der Mann als Träger des Blickes" (Mulvey 1980,36). Die Frau fungiere im Film als Objekt des erotischen Blickes, sowohl des Blickes der männlichen Hauptfigur wie auch des Zuschauers, der die Perspektive des Protagonisten übernehme. Die Kinoästhetik organisiere den Blick des Zuschauers alsvoyeuristischen Blick auf die Frau. Dadurch entstehen aber Komplikationen, denn das Bild der Frau rufe nicht nur Lust hervor, sondern es konnotiere zugleich "dieAbwesenheit eines Penis, die die Kastrationsdrohung und, folglich, Unbehagen einschließt" (Mulvey 1980, 39). Als Abwehr gegen diese Drohung gebe es zwei psychische Mechanismen, derer sich das Kino bediene: ein sadistischer Voyeurismus, der die Kastrationsangst kompensiere, und der Fetischismus, der die Kastration verleugne, indem er den abwesenden Phallus durch den Fetisch ersetze. Nach Mulvey bleibe im konventionellen Film keine Möglichkeit einer weiblichen Subjektivität. Der Film zwinge den Zuschauerinnen die eingebaute männliche Sehweise und eine"transsexuelle Identifikation" auf (Mulvey 1981).

Mulveys Beschreibung der Fixierung des Blicks auf eine voyeuristische oder fetischistische Sehweise ist nach wie vor einflußreich. Sie wirft aber insbesondere in Hinblick auf das weibliche Publikum Fragen auf, für die sie keine befriedigenden Antworten liefern kann. Das Modell einer Fixierung auf "männliche" Schauweisen macht es schwer zu erklären, "warum Frauen ins Männerkino gehen", wie Gertrud Koch das Problem formulierte (Koch 1989, 125-136).

Es stellt sich die Frage, ob nicht auch Elemente in den Filmen vorhanden sind, die eine andere, "weibliche" Rezeptionsweise zulassen. Die bisherigen Antworten sindvielfältig und eher provisorisch. Modelle des weiblichen Zuschauers basieren u.a. auf narzißtischer Identifikation mit weiblichen Figuren, "hermaphroditischer" Identifikation mit männlichen Figuren und Blicken, Versionen der "Maskerade"5, vor-ödipaler Schaulust (Koch 1989, 125-136), einer komplexen,gleichzeitigen "doppelten Identifikation" (de Lauretis 1984) oder einer masochistischen Identifikation (Doane 1988, 17-19). Diese Vielfalt der Begriffe deutet nicht nur auf den noch offenen Stand der Theorieentwicklung, sondern, wie Mary Ann Doane bemerkt, auch auf realeWidersprüche, die sich auf kein einfaches Modell reduzieren lassen (Doane Am Beispiel der women's films der vierziger Jahre zeigt sie, daß auch diese besonders für Frauen produzierten Filme die Widersprüche der kulturellen Bestimmung der Weiblichkeit reproduzieren. Ihr Fazit: ein solcher Film, der insbesondere Frauen anspreche, funktioniere aber so, daß er ihnen den Weg zu einer aktiven Subjektivität versperre: "It functions quite precisely to immobilize [...]" (Doane 1988, 19). Dabei spiele gerade die geschlechtsspezifische Inszenierung der Blicke eine große Rolle.

Identifizierung funktioniere aber dabei nicht als automatische Folge der Kameraführung, sondern sei durch Figuren, Erzählung, Pathos und vor allem durch die Phantasie der Zuschauerinnen vermittelt (Doane 1988, 176-178. Die neuere feministische Filmtheorie entwickelt also mehrdimensionale, zunehmend differenzierte Modelle der Wirkung von Filmen. Ausgehend von der Frage der geschlechtsspezifischenBestimmung der Identität, untersuchen sie verschiedene Elemente der Filme - von der Mikrostruktur der Bildgestaltung bis zur Makrostruktur der Erzählung oder eines Genres. Die Hinwendung zur Analyse konkreter Filme hat viel zur Überwindung derabstrakten Einseitigkeit der ersten psychoanalytisch basierten Modelle beigetragen.

4. Kulturelle Diskurse

Sowohl elaborierte Theorien der Identifikation als auch neuere Entwicklungen derfeministischen Theorie versuchen, die Aporien der frühen Apparatus- und Ideologietheorie zu überwinden, indem sie aktive Komponenten des Zuschauens betonen. Dazu gehören insbesondere die Phantasie und eine konstruktive, sinbildende Tätigkeit.

Im folgenden werde ich versuchen zu skizzieren, wie eine Theorie kultureller Diskurse Anregungen für die Zusammenführung und weitere Entwicklung der filmtheoretischen Ansätzegeben kann.

Die Wirkung eines Films kann man als ein Angebot an Bedeutungen, Zeichen, Gefühlsanregungen und Identifikationsmöglichkeiten begreifen, aus dem die Zuschauer und Zuschauerinnen ihr Filmerlebnis zusammensetzen und die sie zur Deutung ihrer Lebenswelt nutzen. Im Rahmen einer Diskurstheorie wird es vielleichtmöglich sein, dies so zu konzipieren, daß man nicht gleich wieder beim selbstherrlichen ego cogitans landet, sondern eine dialektische Beziehung zwischenaktiven Subjekten und deren Bestimmung durch den Diskurs vorstellen kann.

Eine fertige Diskurstheorie, die auf den Film anzuwenden wäre, gibt es nicht. Es geht hier vielmehr um eine umfassendere Fragestellung, die die Grenzen der bisherigen Diskussion und vielleicht eine Richtung für weitere Arbeit andeuten kann. Genausowenig wie die Psychoanalyse oder kognitive Theorien kann eine Diskurstheorie eine "Big Theory of Everything" (Bordwell 1988,11) bieten. Sie kann vielleicht aber dazu dienen, Fragen zu stellen, die über die -zunächst oft notwendigen -partikularen Grenzen der Teilmodelle hinausgehen. Der Begriff "Diskurs", verstanden als Schnittstelle zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen (Kultur, Gesellschaft,Macht), ist schwer zu fassen. Bislang bezeichnet er eher ein theoretisches Problem als dessen Lösung. Wenn man weder eine mechanische Determination des einzelnen noch die Vorstellung eines souveränen, abgeschlossenen Subjekts ohne weiteres akzeptieren kann, wie läßt sich die Beziehung zwischen Subjekt und Gesellschaft oder Kultur begreifen? Der Begriff Diskurs kennzeichnet eine Vermittlung dieser Sphären, indem er sowohl intersubjektive Faktoren (Regelsysteme, historische Entwicklungen,Tradition, Machtstrukturen etc.) beinhaltet, die das Individuum mit determinieren, als auch die Ebene der Realisierung in Äußerungen und Handlungen der Subjekte umfaßt. Diskurse sind als Systeme und Subsysteme von Signifikation zu verstehen, die Bedeutungen formen und regulieren. Sie bieten Rohmaterial für die Produktion von Bedeutung (Begriffe, Stereotypen, Formen der Subjektivität etc.), aber sie grenzen auch die Möglichkeiten des Wissens und der Äußerung ein. Der Diskurs ist kein transparentes Mittel der Verständigung (etwa im Habermasschen Sinn eines idealen Diskurses), sondern beinhaltet immer auch die Möglichkeiten des Mißverständnisses,der Verkennung, der Macht und des Unbewußten.

Ein Film, sofern er für Zuschauer bedeutsam wird, partizipiert in verschiedenen Diskursen. Die Konventionen der Filmform bilden ein solches Diskurssystem, dessen Regeln von der neoformalistischen Filmtheorie herausgearbeitet worden sind. Darüberhinaus besteht das Vorwissen der Zuschauer aus Elementen verschiedener Diskurse. Der Terminus "Diskurs", anstelle von "Code", betont, daß diese Systeme historisch, im ständigen Wandel und kontextbezogen sind und daß sie in Wechselwirkungen mit den konkreten Äußerungen stehen. Einen Film zu verstehen, kann nicht im Sinne der traditionellen Hermeneutik Zurückführung auf eine ursprüngliche Bedeutung heißen, sondern meint die Konstruktion der Bedeutung im Diskurs. Die kognitive Theorie liefert Modelle für das Verständnis solcher Bedeutungskonstruktion. Durch die Konzentration auf intentionale und rationaleProzesse sind diese Modelle aber eingeschränkt. Die Psychoanalyse bietet ein Modell für die Interpretation offener, dynamischer, aber zugleich strukturierter Prozesse. Sie stellt aber Sinn, Subjekt und deren gegenseitiges Verhältnis in Frage, anstatt von abgeschlossenen, konstanten Einheiten auszugehen (Brenkman 1987).6

So muß die Identifikation weder als einseitige, imaginäre Bestimmung des Zuschauers durch das Kino noch als rein subjektiver Umgang mit dem Film konzipiert werden,sondern als mehr-dimensionaler Prozeß – oder vielmehr als vielfache gleichzeitigeProzesse, die an verschiedene symbolische Diskurse anknüpfen. Weil die Apparatus-Theorie und Althussers Definition der Ideologie sich völlig auf die imaginäreIdentifikation konzentrierten, blockierten sie die Analyse der symbolischenAusarbeitung der Subjektivität.

Bei einem konkreten Film könnte man mehrere Ebenen der Identifikation feststellen. Zum Beispiel wäre die Identifikation mit einer impliziten Zuschauer-Position zunennen. In einem konventionellen Film ist die Montage so konstruiert, daß man alsZuschauer die Erzählung kognitiv nachvollzieht, in die Handlung involviert wird, anden Emotionen der Figuren teilnimmt und dies aus wechselnden Perspektiven innerhalbdes Handlungsraums sieht. Die Organisation der Blicke zwischen Figuren und dieEinbeziehung der Zuschauer und Zuschauerinnen spielt hier keine geringe Rolle.

Zugleich fördert das System der Blicke auch die Identifikation mit den Figuren. DieseIdentifikation wird unterstützt durch Teilhabe an den Blicken der Figuren. Erzeugt wird sie aber auch durch die gesamte Erzählung. Die Identifikation ist von unseren Wünschen, von unserer vorgeformten Identität, von der Steigerung der Gefühle durchPathos oder Musik und von der gesamten Kino-Situation abhängig. Identifikation mitFiguren geschieht in Interaktion mit außerfilmischen Diskursen, die die Figuren, ihre Situationen und ihre Handlungen definieren und ihnen Bedeutung geben, z.B. im Diskurs der Geschlechterdefinition, der in fast jedem Film mobilisiert und bestätigt wird. Denken wir an irgendeinen Hollywoodklassiker, z.B. CASABLANCA (Michael Curtiz, USA1942): Dieser Film liefert ein gutes Beispiel für die von Mary Ann Doane konstatierte Immobilisierung der Frau.

Am Schluß ist die Ingrid Bergmann-Figur zu einem völlig passiven Objekt der Männer geworden. Dies wird in der Handlung realisiert, aber auch in der Komposition der Bilder und in der Kameraführung, die sie zum weichgezeichneten Objekt der Blicke reduziert. Zugleich knüpft der Film an Stereotype eines Diskurses der romantischen Liebe an, der sich historisch langfristig entwickelt hat. Auf einer anderen Ebene der Bedeutung gewinnt die Männerrolle Bogarts zusätzliche Bedeutung in einem politischen Diskurs (gegen isolationism) sowie in der Definition des existentiellen Helden, die wiederum an den historischen Diskurs des (amerikanischen) Individualismus anknüpft. Die Auflistung verschiedenerBedeutungskomplexe ließe sich fortsetzen.Die Elemente des Films bilden auf diese Weise interdiskursive Knotenpunkte der Bedeutung. Über die Figuren und die erzählte Handlung als Relais werden dieZuschauer eingeladen, verschiedene partielle Identifikationen mit Figuren bzw. ihren Eigenschaften, Haltungen etc. einzugehen. Diese Identifikationen gewinnen ihre Bedeutung aus dem Zusammenhang kultureller Diskurse. Dies passiert nicht automatisch, sondern ist davon abhängig, daß die Identifikationsangebote schon existente Wünsche der Zuschauer und Zuschauerinnen ansprechen. Aus dem Geflecht der möglichen Bedeutungen konstruieren die Zuschauer – bewußt und unbewußt – ihr Verständnis des Films und ihr emotionales Filmerlebnis. Dies können sie aber nur innerhalb der Grenzen, die von den symbolischen, gesellschaftlichen und kulturellenDiskursen vorgeben sind - im Film wie im restlichen Leben. So kann man Ideologie als Prozesse der strukturellen Eingrenzung und der Umleitung von Wünschen und Vorstellungen auf vorgegebene Objekte und Äußerungsformen begreifen. SolcheProzesse schlagen sich in "textuelIen Strategien" nieder, die eine Art Kompromißbildung repräsentieren (Jameson 1982, Brenkman 1979). Ideologie ist durchaus als ein Verhältnis zwischen Subjekten und (filmischen) Diskursen zu sehen, jedoch nicht als mechanische Determinierung durch den "Apparatus", sondern alsWechselwirkung zwischen subjektiven Wünschen und Vorstellungen und deren kultureller Regelung, die sich in textuellen und intertextuellen Strukturen niederschlagen. Diese Bestimmung der Funktionsweise von Ideologie bezieht sich auf diverse, teilweise sehr unterschiedliche Impulse der marxistischen und (post)strukturalistischen Theoriebildung – "Frankfurter Schule", Althusser, Foucault, Lacan u.a. – und findet ihre dezidierteste Formulierung in den Arbeiten von Brenkman und Jameson. Diese Theorie habe ich in der Untersuchung ideologischerMechanismen in Filmen des Nationalsozialismus angewendet (Lowry 1991).

Zum Verständnis der Rezeption und Verarbeitung eines Films können sowohl kognitive als auch strukturalistisch-psychoanalytische und 'diskurs-orientierte Modelle beitragen. Diese Modelle werden sich aber nicht ohne weiteres vereinbaren lassen. Als Streitpunkt bleibt z.B. die Frage, ob und wie unbewußte und emotionale Faktoren konstitutiv für das Subjekt sind und wie sie in Hinsicht auf die Filmrezeption zukonzipieren sind. Wieweit sich poststrukturalistische Theorien, die z.B. bei Althusser und Foucault lange bemüht waren, das Subjekt zu einer Funktion des Diskurses zu reduzieren, sich in Richtung eines dialektischen, konstruktivistischen Modells öffnen lassen, muß sich noch zeigen. Ob die Konzepte der Schematheorie und der Begriff des Diskurses sich gegenseitig erweitern und konkretisieren, wird sich auch erst in derweiteren Theoriebildung erweisen. Wofür ich plädieren möchte ist, daß sich ein produktiver Dialog zwischen den Vertretern dieser Richtungen entwickelt, damit wir die Rezeption von Film und Fernsehen besser zu verstehen lernen. Allerdings dürfen wir uns nicht der Illusion hingeben, daß diese Theorien letztlich einen archimedischenPunkt ergeben könnten, von wo aus sich die "Wahrheit" des Films und des Zuschauens feststellen ließe. Wie jede Theorie werden auch diese Ansätze in der konkreten Anwendung nur zu Interpretationen führen können, die kontingent, individuell und historisch bleiben.

Literatur

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