Mit Fettstift und Echtzeit
Gespräch zwischen Walter Murch und Michael Ondaatje

Gesprächsabschnitt zum Eyetracking



Meistens kalkuliere ich ein, wo die Augen des Publikums im Moment des Schnitts sind, in welche Richtung sie sich bewegen, und wie schnell. Der Cutter muß sich das Zentrum der Aufmerksamkeit des Publikums während der Vorführung vorstellen und vorhersagen können, wo neunundneunzig Prozent der Zuschauer in einem bestimmten Moment hinschauen. Sie haben gesagt, Sie schauen immer zu der Person, die tippt, der Stenotypistin in Gerichtsszenen. Sie sind vielleicht die einzige Person, bei der ich es nicht vorhersagen kann! Im großen und ganzen muß ich aber mit einiger Sicherheit sagen können, daß in einem bestimmten Moment neunundneunzig Prozent der Zuschauer auf diesen Punkt auf der Leinwand schauen und im nächsten Moment dorthin. Das heißt, ihre Augen bewegen sich zum Beispiel mit einer gewissen Geschwindigkeit von links in die obere rechte Ecke der Leinwand. Wenn ich an diesem Punkt bei Bild siebzehn schneide, weiß ich, daß ihre Augen im Koordinatensystem der Leinwand dort oben sind.

Das ist eine sehr wichtige Information. Wenn ich die nächste Einstellung auswähle, suche ich ein Bild aus, auf dem genau dort, wo die Augen der Zuschauer beim Schnitt gerade sind, etwas Interessantes zu sehen ist, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen und in eine neue Richtung zu lenken. Jede Einstellung hat ihre eigene Dynamik. Eine der Pflichten des Cutters ist es, den Brennpunkt der Aufmerksamkeit des Publikums wie ein heiliges Gefäß zu tragen und auf interessante Art über die Leinwand zu bewegen.

In einer Kampfszene darf man aber die Erwartungen der Zuschauer durchkreuzen. Man kann ihre Augen in eine Richtung lenken und dann auf etwas schneiden, das in die völlig andere Richtung geht. Das erzeugt beim Publikum ein Gefühl der visuellen Desorientierung, wie sie in einem echten Kampf entsteht. Man weiß nicht, woher der nächste Schlag kommt. Dieses Gefühl versuchen wir visuell zu imitieren.

0: Und womöglich auch in einer Liebesszene.

M: Ja. In der Liebe gibt es keine Achsensprünge. In einer leidenschaftlichen Liebesszene ist es sogar ein Vorteil, wenn man die Bildachse möglichst oft überschreitet. Sieht man die Tanzszene aus Ghost Nachricht von Sam an, nachdem Sam und Molly mit Lehm gespielt und angefangen haben, zur Musik der Jukebox zu tanzen ... Sie steckt voller Schnitte, die die Bildachse überschreiten. Wenn der Tanz leidenschaftlich wird, bringt jeder Schnitt die Figuren auf die »falsche« Seite des Bilds.

Visuell gesehen führe ich das Auge, das passiert rhythmisch und sinnlich, aber Moment mal! Soll sie nicht links sein und er rechts? Nein, es ist andersherum! Dadurch geraten wir in den Zustand, den wir bei leidenschaftlicher Liebe erleben Desorientierung, Raumlosigkeit. Wir sind körperliche Wesen, aber wir sind an einem Ort jenseits des Raums. Indem ich die Grammatik des Films so fragmentiere, suggeriere ich dem Publikum ein wenig von demselben Gefühl.

Würde ich es so schneiden, wie man es nach der klassischen Filmgrammatik schneiden soll, wäre die Wirkung etwas plump: Diese Menschen tun leidenschaftliche Dinge, und wir stehen bloß daneben und sehen ihnen zu. Indem man die Regeln bricht, kann man das Publikum diesem Wahn näherbringen, der die leidenschaftliche Liebe ist.

In: Ondaatje, Michael (2002) Die Kunst des Filmschnitts. Gespräche mit Walter Murch. S.265-275.