Walter Murch - In the Blink of an Eye (Auszüge)
Übersetzung Markus Schmidt

Warum funktionieren Schnitte? (S.5)
Es ist ja nun mal so, dass Apocalypse Now, genauso wie jeder andere Kinofilm (ausser vielleicht Hitchcocks Rope1) aus vielen verschiedenen Stücken zusammengesetzt ist, die ein Mosaik aus Bildern ergeben. Das Mysteriöse dabei ist jedoch das Zusammenfügen dieser Einzelteile- der Cut in der amerikanischen Terminologie- scheint ja tatsächlich zu funktionieren, obwohl er doch eine völlige und unmittelbare Desorientierung eines visuellen Feldes gegen ein anderes stellt, eine Desorientierung, die manchmal sogar einen Sprung vorwärts oder rückwärts sowohl im Raum als auch in der Zeit beinhaltet.

Es funktioniert; aber es hätte auch schnell ganz anders kommen können, zumal uns nichts in unserer alltäglichen Erfahrung auf so etwas vorzubereiten scheint. Stattdessen ist die visuelle Realität, die wir wahrnehmen, vom Moment, in dem wir Morgens aufstehen, bis wir unsere Augen Nachts wieder schliessen, ein kontinuierlicher Strom verknüpfter Bilder: tatsächlich hat das Leben auf der Erde für Millionen von Jahren- Hunderten Millionen von Jahren- die Welt auf diese Weise empfunden. Doch plötzlich, zu Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts, wurden Menschen mit etwas anderem konfrontiert - geschnittenem Film.

Unter diesen Umständen wäre es nicht überraschend gewesen herauszufinden, dass unsere Gehirne von der Evolution und Erfahrung so verkabelt sind, dass wir den Schnitt im Film ablehnen würden. Wäre dies der Fall gewesen, dann wären die Single-Shot-Movies (Filme mit einer Einstellung) der Lumière-Brüder- oder Hitchcocks Rope- zum Standard geworden. Aus einer Anzahl von praktischen (und auch künstlerischen) Gründen ist es gut, dass dem doch nicht so ist.
(...)
Wenn die visuelle Desorientierung gross genug ist (wie im Moment des Schnittes), werden wir gezwungen, das neue Bild als einen anderen Kontext wieder- zubewerten: auf wunderbare Weise haben wir die meiste Zeit keine Probleme damit.
(...)

Keine Angst - es ist nur ein Film (S.57)
Weiter oben fragte ich „Warum funktionieren Schnitte“? Wir wissen, dass sie es tun. Und es ist immer noch überraschend, wenn man darüber nachdenkt, wegen der Verletzung, die da tatsächlich stattfindet: im Moment des Schnittes entsteht eine völlige und unmittelbare Diskontinuität des visuellen Feldes (der visuellen Wahrnehmung).

Ich erinnere mich, wie ich einmal nach einigen Wochen im Mischstudio (wo alle Bewegungen reibungslos und aufeinander aufbauend sind) in den Schneideraum zurückkam und entsetzt war über die Brutalität beim Vorgang des Schneidens. Der Patient wird auf den Hackklotz gepackt und: Zack! Entweder/Oder! Dieses, nicht das! Rein oder Raus! Wir zerhacken den armen Film in einer Miniatur-Guillotine und flicken die verstümmelten Stücke zusammen wie Dr. Frankensteins Monster. Der Unterschied (der verwunderliche Unterschied) liegt darin, dass aus dieser augenscheinlichen Metzelei unserem Werk manchmal nicht nur Leben erwachsen kann, sondern auch eine Seele. Das ist um so erstaunlicher, weil die unmittelbare Desorientierung, die der Schnitt erreicht, sich mit keiner Erfahrung unseres Alltagslebens vergleichen lässt.

(S.58)Wir sind daran natürlich bei der Musik gewöhnt (Beethoven war der Erfinder und Meister darin), genau wie bei unseren eigenen Gedanken- wie eine Vergegenwärtigung auf einmal alles andere erdrückt, um wiederum gleich von einer neuen ersetzt zu werden. Doch in den dramatischen Künsten (Theater, Ballett, Oper) scheint es keinen Weg zu geben, der die völlige und unmittelbare Desorientierung erreicht: Bühnentechnik bewegt sich eben nur so schnell. Warum also funktionieren die Schnitte? Gibt es da einen versteckten Ursprung in unserer eigenen Erfahrung oder sind sie einfach eine Erfindung, die der Bequemlichkeit der Filmemacher entspricht und die Leute sind irgendwie daran gewöhnt worden?
Nun also, obwohl die alltägliche Realität kontinuier-lich erscheint, gibt es diese andere Welt, in der wir vielleicht ein Drittel unseres Lebens verbringen: die allnächtliche Realität der Träume. Und dabei sind die Bilder unserer Träume viel fragmentierter, überkreuzen sich auf viel seltsamere und abrupte Weise, als die Bilder der wachenden Realität- auf eine Weise, die sich zumindest annähert an die Wechselwirkung, die durch Schnitte erzielt wird.

Vielleicht ist die Erklärung ja so einfach wie die folgende: wir akzeptieren den Schnitt, weil er der Art ähnelt, in der Bilder in unseren Träumen nebeneinander-gestellt werden. Tatsächlich mag doch die Abruptheit des Schnitts der entscheidende Faktor sein, der die Ähnlichkeit zwischen Filmen und Träumen herstellt. Und tatsächlich sagen wir in der Dunkelheit des Kinos zu uns selbst: „das sieht ja aus wie Realität, aber es kann keine Realität sein, weil es visuell so dis-kontinuierlich ist; deswegen ist es ein Traum.“

(Nebenbei bemerkt, offenbar sind die Worte, die Eltern benutzen, um ihre Kinder zu beruhigen, wenn sie einen Alptraum hatten - keine Angst Liebling, es ist nur ein Traum- fast dieselben Worte, die benutzt werden, um ein Kind zu beruhigen, das von einem Film verängstigt ist- „keine Angst Liebling, es ist nur ein Film.“(S.59)Verängstigende Träume und Filme haben ähnliche Kraft beim Überwinden der Schutzfunktion, die sonst wirksam ist, gegen ähnlich verängstigende Bücher, Gemälde oder Musik. Folgender Satz ist beispielsweise schwer vorstellbar:„Keine Angst Liebling, es ist nur ein Gemälde.“

Das Problem bei all dem ist, dass der Vergleich zwischen Filmen und Träumen zwar interessant ist, wahrscheinlich sogar zutreffend, doch bar jedes praktischen Nutzens: wir wissen immer noch so wenig von der Natur der Träume, die eine Beobachtung zum Erliegen kommen lässt, im Moment da sie gemacht wird.
Bemerkenswert jedoch ist, dass es doch einen Teil unserer wachen Realität gibt, in der wir etwas erfahren wie einen Schnitt, in der Tageslichtbilder auch irgendwie in eine engere, diskontinuierlichere Nebeneinanderstellung gebracht werden, als es irgendwo anders der Fall zu sein scheint.

Ich begann einen Schimmer davon zu bekommen bei meinem ersten Bildschnitt-Job -The Conversation-, wo ich immer wieder herausfand, dass Gene Hackman sehr nahe an dem Punkt „blinken“ würde, an dem ich mich entschlossen hatte zu schneiden. Das war schon einmal interessant, aber ich wusste nicht, was ich daraus machen sollte.

Dann, eines Morgens, nachdem ich die ganze Nacht durchgearbeitet hatte, ging ich raus zum Frühstücken und geriet zufällig vor ein Schaufenster eines Christian Science Lesesaals, in dem die Titelseite des Christian Science Monitor ein Interview mit John Houston ankündigte. Ich ging rein um es zu lesen und etwas daran hat mir einen Stich versetzt, weil es sich genau auf die Frage mit dem Blink bezieht:(S.60)

„Für mich ist ein perfekter Film einer, der sich hinter deinen Augen abspult, als ob ihn deine Augen selbst projizieren, so dass man also sieht, was man zu sehen wünscht. Film ist wie Denken. Es ist von allen Künsten der Prozess, der dem Denken am nächsten ist.“

„Schau zu der Lampe dahinten im Zimmer. Jetzt schau wieder zurück zu mir. Schau wieder zurück zu der Lampe. Schau wieder zurück zu mir. Erkennst du, was du getan hast? Du hast geblinkt. Das sind die Schnitte. Nach dem ersten Blick weisst du, dass es keinen Grund gibt, kontinuierlich von mir zu der Lampe zu schwenken, weil du weisst, was dazwischen ist. Dein Gedächtnis schneidet die Szene. Zuerst bleibst du auf der Lampe, dann bleibst du auf mir.“ 2

Was uns Houston dadurch klarmachen will, ist ein physiologischer Mechanismus- der Blink-, der die augenscheinliche Kontinuität unserer Wahrnehmung unterbricht. Mein Kopf mag sich ja langsam von einer Seite des Raumes zur andern bewegen, aber tatsächlich schneide ich den Fluss der visuellen Bilder in augenfällige Teile, um diese Teile- Lampe und Gesicht in Houstons Beispiel- besser nebeneinanderzustellen und zu vergleichen, ohne irrelevante Information im Wege zu haben.

Natürlich gibt es Grenzen bei der Art der Nebeneinanderstellung, die ich so machen kann - ich kann in Raum und Zeit nicht Vorwärts oder Rückwärts springen. (das ist das Privileg von Träumen und Filmen )3. Aber sogar so sind die visuellen Desorientierungen die ich erreichen kann, sehr gross, nur indem ich meinen Kopf drehe.(vom Grand Canyon vor mir zu dem Wald hinter mir, oder selbst von einer Seite dieses Zimmers zu der anderen.)

(S.61)
Nachdem ich den Artikel gelesen hatte, begann ich Leute zu beobachten, schaute zu, wenn sie blinkten, und ich begann etwas zu entdecken, das ganz anders war als das, was sie uns in der Schulbiologie erzählen, nämlich dass der Blink nur eine Maßnahme ist, die Oberfläche des Auges zu befeuchten. Wenn das alles wäre, gäbe es ja für jede Umgebung und jedes Individuum einen rein mechanischen, vorhersagbaren Blink, der von der Feuchtigkeit, Temperatur, Windgeschwindigkeit usw. abhängt. Man würde nur blinken, wenn das Auge zu trocken wird, und das wäre dann eine konstante Anzahl von Blinks für jede Umgebung. Aber das ist sicher nicht der Fall: Die Leute halten minutenlang ihre Augen offen- um dann wiederholt zu blinken- mit all den Variationen dazwischen. Die Frage ist, was bringt sie zum Blinken?

Einerseits bin ich sicher, dass sie es alle schon einmal mit jemandem zu tun hatten, der so verärgert war, dass er überhaupt nicht geblinkt hat: ich denke, das ist eine Person, die einen einzelnen Gedanken einnimmt (und der sie einnimmt) und der sie hemmt, beim Antrieb und beim Bedürfnis zu blinken.4 Und dann gibt es die gegensätzliche Sorte Anspannung, die einen dazu bringt, jede Sekunde oder so zu blinken: diesmal wird die Person gleichzeitig von vielen widersprüchlichen Gefühlen und Gedanken bestürmt und verwendet diese Blinks verzweifelt (und unbewusst), um diese Gedanken voneinander zu trennen, Ordnung hinein zu bringen und wieder Kontrolle zu erlangen.(S.62)

Es erscheint mir also, dass unsere Blinkfrequenz anscheinend eher mit unserem Gefühlszustand und der Art und Häufung unserer Gedanken verschaltet ist als mit der atmosphärischen Umgebung, in der wir uns wiederfinden. Selbst wenn keine Kopfbewegung vorliegt (wie es in Houstons Beispiel der Fall ist), ist der Blink entweder etwas, das eine innere Trennung des Gedankenflusses unterstützt, oder es ist ein unwillkürlicher Reflex, der die ohnehin stattfindende gedankliche Trennung begleitet.5

Und nicht nur die Häufigkeit der Blinks ist entscheidend als vielmehr auch der eigentliche Zeitpunkt des Blinks selbst. Beginne eine Unterhaltung mit jemandem und beobachte, wann er blinkt. Ich bin sicher, dass dein Gegenüber genau in dem Moment blinkt, in dem sie oder er begreift, was du sagen willst, nicht einen Augenblick früher oder später. Warum wird das so sein? Nun denn, die Sprache ist voller unwillkürlicher Höflichkeitsfloskeln und Ausführungen- die sprachlichen Äquivalente von „Sehr geehrter Herr“ und „Hochachtungsvoll“- und die Essenz von dem, was wir sagen, ist oft verpackt zwischen Einleitung und Schlussfolgerung. Der Blink wird also entweder stattfinden, wenn der Zuhörer erkennt, dass unsere Einleitung beendet ist und wir jetzt etwas Wichtiges sagen, oder er wird kommen, wenn er bemerkt, dass wir zum Ende kommen und erst einmal nichts weiter Wichtiges anfügen.

Und dieser Blink wird da auftreten, wo der Schnitt gemacht werden könnte, wenn die Unterhaltung gefilmt worden wäre, nicht ein Feld vorher oder nachher.
Wir tragen uns also mit einem Gedanken, oder einer verketteten Abfolge von Gedanken, und blinken, um diese Gedanken von dem Folgenden zu trennen oder zu betonen. Auf ähnliche Weise unterbreitet uns- beim Film- eine Einstellung einen Gedanken, oder eine Verkettung von Gedanken, und der Schnitt ist der „Blink“, der diese Gedanken voneinander trennt oder betont.6 In dem Augenblick, in dem man entscheidet zu schneiden, sagt man letztendlich: „ich bringe diesen Gedankengang zu Ende und beginne mit etwas Neuem.“ Dabei ist es wichtig zu betonen, dass der Schnitt den „Augenblick des Blinks“ nicht selbst erzeugt- der Hundeschwanz wedelt ja nicht mit dem Hund selbst. Wenn der Schnitt gut plaziert ist, je deutlicher also die visuelle Diskontinuität sei- vom dunklen Innenraum zur gleißenden Ausseneinstellung beispielsweise- desto nachhaltiger wird die Betonung ausfallen.

Jedenfalls bin ich der Ansicht, dass „filmartige“ Nebeneinanderstellungen in der wahren Welt nicht nur vorkommen, solange wir träumen, sondern auch solange wir wach sind. Und ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass diese Nebeneinanderstellungen keine zufälligen gedanklichen Überbleibsel darstellen, als vielmehr Teil der Methode, die wir nutzen, um unserer Umwelt Sinn zu geben: wir müssen die visuelle Realität diskontinuierlich bearbeiten, sonst würde die wahrgenommene Umwelt einer beinahe unverständlichen Buchstabenreihe ohne Worttrennung und Punktuierung ähneln. Wenn wir im dunklen Kinosaal sitzen, erleben wir geschnittenen Film als (überraschend) bekannte Erfahrung. „Dem Denken näher als sonst irgend etwas“, um Houstons Worte zu benutzen7.

Dragnet-Fahndungsnetz (S.64)

Wenn es wahr wäre, dass die Quote und der Rhythmus unserer Blinks sich direkt bezöge auf den Rhythmus und die Aneinanderreihung unserer Gefühlslage und Gedanken, dann wären genau diese Quote und dieser Rhythmus Einsichten in unser Innerstes und folglich genauso charakterisierend für jeden von uns wie unsere Unterschrift. Wenn sich also ein Schauspieler gelungen in die Gefühlslage und Gedanken einer Figur einfühlt, werden seine Blinks natürlich und spontan an dem Punkt auftreten, an dem die Blinks der Figur im wahren Leben aufgetreten wären.8

Ich bin mir sicher, dass es das war, was ich an Hackmans darstellerischer Leistung in The Conversation bemerkte- er hatte den Charakter von Harry Caul angenommen, dachte eine Folge von Gedanken wie Harry sie dächte und blinkte folglich im Rhythmus dieser Gedanken.(S.65) Und da ich den Rhythmus aufnahm, den er mir vorgab, und selbst versuchte, ähnliche Gedanken zu denken, fielen meine Schnittpunkte natürlicherweise zusammen mit seinen Blinkpunkten. Auf eine Weise hatte ich meine Nervenbahn so umgeleitet, dass das halb- unwillkürliche Kommando zu blinken mich statt dessen dazu brachte, den Stopknopf an der Schnittmaschine zu betätigen.

Aus derselben Ecke kommt eine der Regeln, die ich mir auferlege: die Wahl des Outpunkts einer Einstellung in Realgeschwindigkeit. Wenn mir das nicht gelingt, wenn ich dieses Feld nicht wiederholt bei vierundzwanzig Bildern pro Sekunde treffen kann, dann weiss ich, dass etwas falsch läuft mit meiner Annäherung an diese Einstellung, und so passe ich mein Denken an, bis ich ein Feld finde, bei dem ich treffe. Niemals erlaube ich mir den Outpunkt zu bestimmen, indem ich vor und zurückfahre und ein Feld mit dem anderen vergleiche, um die beste Übereinstimmung zu bekommen. Diese Methode erzeugt garantiert- für mich jedenfalls- eine rhythmische „tone deafness“(Klangtaubheit) für den Film.
Und überhaupt, eine andere Aufgabe, die du als Cutter hast, liegt darin, dich auf den Rhythmus zu sensibilisieren, den dir ein guter Schauspieler vorgibt, um dann Wege zu finden, diesen Rhythmus auszudehnen auf Gebiete, die durch den Schauspieler gar nicht abgedeckt sind, so dass das Schrittmaß (pacing) des Films als Ganzes eine Vervollkommnung jener Gedankenmuster und Gefühle erfährt. Einer der vielen Wege, wie man diesen Rhythmus aufnimmt, liegt darin- bewusst oder unbewusst- wahrzunehmen, wann der Schauspieler blinkt.
Es gibt eine Art zu schneiden, die diese gesamte Fragestellung übersieht, ich will sie das Dragnet-System nennen, nach der gleichnamigen TV-Serie aus den Fünfzigern.

Die Vorgehensweise dieser Show schien es zu sein, jedes Wort des Dialogs im Bild zu haben. Wenn jemand fertig war mit Sprechen (S.66) gab es eine kurze Pause und dann den Schnitt zu der Person, die gerade anhob zu sprechen, und wenn diese wiederum fertig war mit Sprechen, gab es einen Schnitt zurück zu der ersten Person, die mit dem Kopf nickte oder etwas anders sagte, und dann , als diese Person am Ende war, gab es wieder einen Schnitt zurück usw. usf. Das erstreckte sich bis auf einzelne Wörter. „Warst du schon in der Stadt?“ Schnitt, „Nein“ Schnitt, „Wann gehst du denn?“ Schnitt, „Morgen“ Schnitt, „Hast du deinen Sohn gesehen?“ Schnitt, „Nein, er kam nicht nach Hause letzte Nacht“ Schnitt, „Wann kommt er denn normalerweise heim?“ Schnitt, „Um zwei“. Zu der Zeit als die Show das erste Mal herauskam, rief diese Technik Aufsehen hervor, offenbar durch ihren hartgesottenen Polizeibericht-Realismus.

Das Dragnet-System ist zwar eine einfache Art zu schneiden, doch ist dies eine flache Einfachheit, die nicht die Grammatik des komplexen Austauschs berücksichtigt, die sich sogar bis in die einfachsten Unterhaltungen erstreckt. Wenn man einen Dialog zwischen zwei Personen verfolgt, wird man seine Aufmerksamkeit nicht ausschliesslich auf die Person richten, die gerade spricht. Statt dessen wird man sich abwenden, noch während diese Person spricht, um den Zuhörer anzuschauen und herauszufinden, was er von dem hält, was gesagt wird. Die Frage dabei ist: „Wann genau wird man sich abwenden?“

Es gibt Stellen in einer Unterhaltung, an denen es scheint, dass wir körperlich fast nicht mit den Augen blinken oder unseren Kopf abwenden können (weil wir immer noch wichtige Informationen erhalten) und es gibt andere Stellen, an denen wir blinken oder den Kopf abwenden müssen, um einen besseren Sinn aus dem zu ziehen, was wir eben erfahren haben. Und ich würde vorschlagen, dass es in jeder Szene ähnliche Stellen gibt, an denen ein Schnitt stattfinden muss oder nicht stattfinden darf, und zwar aufgrund derselben Mechanismen.(S.67)

Jede Einstellung hat potenzielle Schnittpunkte genauso wie ein Baum Zweige, und wenn man die erst einmal bestimmt hat, wird man verschiedene Punkte auswählen in Abhängigkeit davon, was die Zuschauer bis dahin gedacht haben oder was man sie als Nächstes denken lassen will.

Wenn ich zum Beispiel von einer bestimmten Figur wegschneide, bevor er aufhört zu sprechen, kann es sein, dass ich die Zuschauer darin bestärken will, nur an den Anschein dessen, was gesagt wurde zu denken. Andererseits, wenn ich auf der Figur bleibe, nachdem sie zu Ende gesprochen hat, erlaube ich den Zuschauern an dem Ausdruck ihrer Augen zu erkennen, dass sie möglicherweise nicht die Wahrheit sagt, und so werden sie anders denken über sie und darüber, was sie sagte. Da es jedoch eine bestimmte Zeit braucht, diese Beobachtung zu machen, kann ich nicht zu früh von der Figur wegschneiden: entweder ich schneide also weg, solange sie spricht (Zweig Nummer eins) oder ich bleibe drauf, bis die Zuschauer merken, dass er lügt (Zweig Nummer Zwei), aber ich kann nicht zwischen diesen beiden Zweigen schneiden. Es doch zu tun, erschiene entweder zu lang oder eben nicht lang genug. Die Abzweigungen werden organisch zusammengehalten von dem Rhythmus der Einstellung selbst und von dem, was die Zuschauer sich gedacht haben bis zu dem Moment im Film9; doch bin ich frei in der Wahl, diese oder die andere (oder die übernächste) auszuwählen, immer in Abhängigkeit davon, zu welcher Erkenntnis ich die Zuschauer kommen lassen will.

Auf diese Weise sollte man fähig sein, von einem Sprecher auf einen Zuhörer zu schneiden und umgekehrt, und zwar mit psychologisch interessanten, komplexen und zutreffenden Verhaltensmustern, die die Zustände der Verlagerung zwischen Aufmerksamkeit und Bewusstwerdung beachten, wie sie im wahren Leben vorkommen: (S.68) Auf diese Weise baut man einen Rhythmus auf, der die ausgedrückten oder erwogenen Ideen kontrapunktiert und unterstreicht. Und eine der Methoden, um diese Schnittpunkte, diese Abzweigungen, exakt aufzuspüren, mag darin liegen, sie mit dem Verhaltensmuster unserer Augenblinks zu vergleichen, die den Rhythmus unserer Gedanken unterstreichen- seit Hunderten, ja - Tausenden von Jahren menschlicher (Entwicklungs-)Geschichte. An der Stelle, an der man sich wohl fühlt beim Blinken- wenn man wahrhaftig zuhört, was gesagt wird- an der Stelle wird sich der Schnitt gut anfühlen.

Es gibt also drei ineinander verschachtelte Probleme:

1.) Auffinden einer Serie von potentiellen Schnittpunkten (Vergleiche mit dem Blink können dabei helfen)

2.) Bestimmen der Auswirkung der verschiedenen Schnittpunkte auf die Zuschauer

3.) Wählen, welche dieser Auswirkungen die richtige für den Film ist.

Ich glaube, dass die Aneinanderreihung der Gedanken - also der Rhythmus und das Maß des Schnitts - angepasst sein sollte an das, was auch immer die Zuschauer in diesem Moment sehen. Der Blinkdurchschnitt in der wahren Welt liegt irgendwo zwischen den Extremen von Vier und Vierzig Blinks pro Minute. Wenn man sich also mitten in einer Auseinandersetzung befindet, wird man Dutzendmal pro Minute blinken, weil man Dutzende von konkurrierenden Gedanken pro Minute denkt- und also sollte es auch Dutzende Schnitte pro Minute geben, wenn man eine Auseinandersetzung in einem Film anschaut.10(S.69) Tatsächlich sind die beiden Maße - das Blinken im wahren Leben und beim Filmschneiden- statistisch gesehen nah genug beieinander um sie zu vergleichen: Eine überzeugende Action-Sequenz wird, in Abhängigkeit davon, wie sie gezeigt wird, etwa fünfundzwanzig Schnitte pro Minute enthalten, während sich eine Dialogszene (im amerikanischen Film) normal anfühlte, wenn sie durchschnittlich sechs oder weniger Schnitte pro Minute enthielte.

Sie sollten richtig liegen mit den Blinks, wahrscheinlich indem man sie stets unauffällig lenkt. Ich würde von den Zuschauern sicherlich nicht erwarten, dass sie bei jedem Schnitt blinken- der Schnittpunkt sollte ein potenzieller Blinkpunkt sein. Im übertragenen Sinn blinkt man für die Zuschauer, wenn man schneidet, wenn man diese plötzliche Verschiebung des visuellen Feldes erzeugt. Man erzielt für die Zuschauer das plötzliche Nebeneinanderstellen von zwei Realitätskonzepten, genauso wie sie das in der realen Welt durch Blinken erreichen würden, wie in Houstons Beispiel.

Ihre Aufgabe ist es, einerseits den Denkprozess der Zuschauer vorauszuahnen, andererseits diesen zu kontrollieren. Ihnen das zu geben, was sie wollen und/oder was sie brauchen, kurz bevor sie dann danach fragen- also überraschend und dabei gleichzeitig selbstverständlich zu sein. Wenn sie ihnen zu weit hinterher oder voraus sind, gibt das Probleme, doch wenn sie gerade bei ihnen bleiben, sie stets unauffällig lenken, wird sich der Fluss der Geschehnisse gleichzeitig natürlich und aufregend anfühlen.

Eine Galaxie voller blinzelnder Punkte (S.70)
Beim Schreiben dieser Zeilen wäre es faszinierend, einen Infrarot-Film eines Publikums herzunehmen um herauszufinden, wann und nach welchem Muster die Leute blinken, wenn sie einen Film anschauen. Meine Vermutung wäre, dass ein Publikum, das wirklich von einem Film gebannt ist, mit dem Rhythmus des Films denken (und also auch blinken) wird.

Es gibt da diesen wundervollen Effekt, den man erzeugen kann, wenn man Infrarot-Licht direkt auf der Achse der Kameraoptik ausstrahlt. Jedes tierische Auge (eingeschlossen das menschliche) wird einen Anteil dieses Lichts direkt zurück in die Kamera werfen, und so wird man hell glimmende Punkte sehen, wo die Augen sind: das ist eine Form des Rote-Augen-Effekts, den man von Familienfotos kennt, die mit einem Fotoblitz gemacht wurden.

Wenn man also einen hochempfindlichen Infrarotfilm eines filmschauenden Publikums nähme, dabei die Kamera auf der Bühne stände und die Lichtquelle direkt mit der Kamera ausrichtete, sähe man eine Galaxie dieser Punkte auf schwarzem Hintergrund. Und wenn dann einer im Publikum blinkte, würde man eine Unterbrechung dieses Punktepaars sehen.(S.71)

Wenn das also richtig wäre, wenn es also Momente gäbe, in denen diese Tausende Punkte mehr oder weniger in Übereinstimmung blinzelten, hätte der Filmemacher ein extrem mächtiges Werkzeug zu seinem Gebrauch. Übereinstimmendes Blinken wäre ein starker Hinweis darauf, dass die Zuschauer einheitlich denken und dass der Film funktioniert. Doch wenn das Blinken diffus würde, wäre das ein Anzeichen dafür, dass er sein Publikum verloren hat, dass sie beginnen darüber nachzudenken, wo sie zum Essen hingehen oder ob das Auto sicher geparkt ist, usw..

Wenn die Leute tief in einem Film eingetaucht sind, wird man beobachten, dass in bestimmten Momenten niemand hustet, selbst wenn sie erkältet sind. Wäre die Husterei eine eindeutige Folge des Rauchens oder Hustenreizes, so wäre sie gleichmässig verteilt, unabhängig davon, was auf der Leinwand geschieht. Doch die Zuschauer halten sich in bestimmten Moment zurück, und ich schlage vor, dass in diesem Sinne Blinken und Husten etwas Ähnliches darstellen. Es gibt einen berühmten Live-Mitschnitt des Pianisten Sviotoslav Richter, der vor Jahren Mussorgskys Bilder einer Ausstellung während einer Grippeepidemie in Bulgarien aufführte. Es ist doch sonnenklar, was da vorging: während er bestimmte Passagen spielte, hustete niemand. In diesen Momenten konnte er durch seine künstlerische Vollendung den Hustenreiz der über 1500 kranken Leute unterdrücken.

Ich glaube auch, dass man die unterbewusste Wahrnehmung des Blinks als verborgenen Faktor im alltäglichen Leben wiederfindet. Etwas an einer bestimmten Person könnte uns nervös machen, ohne es zu wissen, und das könnte daran liegen, dass man fühlt, dass er falsch blinkt. „Er blinkt zu oft“ oder „Er blinkt zu selten“ oder „ Er blinkt zur falschen Zeit“. Was bedeutet, dass er uns nicht richtig zuhört, nicht mitdenkt.(S.72)

Wohingegen eine Person, die sich eingehend damit beschäftigt, was man sagt, an den „richtigen“ Stellen und mit dem „richtigen“ Maß blinkt, und also wird man sich in deren Gegenwart wohl fühlen. Ich denke, dass man diese Dinge intuitiv, unterbewusst erfasst, ohne es beigebracht zu bekommen, und wäre nicht überrascht herauszufinden, dass dies Teil unserer eingebauten Umgangsformen ist.

Wenn wir erkennen, dass jemand ein schlechter Schauspieler ist, meinen wir damit sicherlich nicht, dass er ein schlechter Mensch wäre; wir meinen damit nur, dass diese Person nicht so tief in der Figur steckt, wie sie uns glauben lassen will, und dass sie deswegen nervös ist. Man kann das klar beim Wahlkampf erkennen, wo es oft einen deutlichen Unterschied gibt zwischen dem, was jemand wirklich ist und dem, was er die Wähler von sich glauben lassen will: Irgend etwas wird stets „falsch“ sein mit dem Maß und dem Moment, in dem diese Leute blinken.

Das bringt mich zurück zu einer der zentralen Verantwortlichkeiten des Cutters, die darin besteht, einen interessanten, zusammenhängenden Rhythmus zu etablieren, im Kleinen wie im Großen, der den Zuschauern erlaubt, der Sache zu vertrauen und sich selbst dem Film zu überlassen. Ohne dass sie wissen warum, werden die Zuschauer bei einem schlecht geschnittenem Film zurückhaltend sein, sie werden sich unbewusst sagen: „da ist etwas Zerfahrenes und Nervöses in der Art, wie dieser Film denkt, wie er sich präsentiert. Ich will nicht so denken wie dieser Film, also werde ich mich ihm nicht so hingeben, wie ich eigentlich könnte.“ Wohingegen ein guter Film, der gut geschnitten ist, den Zuschauern wie eine aufregende Erweiterung und Weiterentwicklung der eigenen Gefühle und Gedanken erscheint, und sie werden sich ihm überlassen, so wie der Film sich ihnen überlässt.

Fußnoten
1Ein Film, der aus zehn unsichtbar verknüpften, Zehnminuten-Einstellungen besteht, so dass der Eindruck vom Fehlen jeglichen Schnitts entsteht.
2 (Christian Science Monitor, 11. August 1973, John Houston, interviewt von Louise Sweeney)
3 siehe auch #5
4 Es gibt da diesen aufschlussreichen Satz bei klassischen Cowboy (und neuerdings auch Verhandlungsführer-) Konfrontationen: „er hat geblinkt“ . Der Verlierer in diesem „Blinzelspiel“ konnte nicht flink genug in einem Gedanken verharren und erlaubte statt dessen im kritischen Moment einem anderen Gedanken aufzukommen. Der Blink zeigt den Moment an, indem er seinen ersten Gedanken aufgab.
5 Dr. John Stern von der Washington Universität in St.Louis hat kürzlich (1987) experimentelle Arbeiten über die Psychophysiologie des Blinks publiziert, die dies zu bestätigen scheinen.
6 Das kann auftreten, unabhängig davon, wie gross oder gering der Gedanke ist. Zum Beispiel kann der Gedanke so einfach sein wie: „Sie bewegt sich schnell nach links“
7 William Stokoe zieht einen verblüffenden Vergleich zwischen der Technik des Schneidens und der amerikanischen Gebärdensprache: „In der Gebärdensprache ist das Narrative nicht mehr länger linear. Statt dessen wird von einer Normaleinstellung zu einer Grossaufnahme, zu einer Tele-Aufnahme und weiter zu einer Grossaufnahme geschnitten, sogar einschliesslich vergangener und zukünftiger Szenen, genauso wie ein Spielfilm-Cutter arbeitet. Die Gebärdensprache ist eher wie geschnittener Film aufgebaut als wie geschriebene Narration, darüber hinaus nimmt der Benutzer der Gebärdensprache die Position der Kamera ein: das Gesichtsfeld und der Blickwinkel werden geführt, bleiben aber variabel.“ William Stockoe, Language in four dimensions, New York Academy of Sciences (1979)
8 Ein Kriterium nicht gelungener Schauspielkunst ist, wenn die Blinks des Schauspielers zur falschen Zeit kommen. Auch wenn man dies nicht bewusst wahrnimmt, entspricht der Rhythmus der Blinks des Schauspielers nicht dem Rhythmus der Gedanken, die man erwartete von der Figur, die er spielt. Tatsächlich denkt ein schlechter Schauspieler nicht im geringsten so wie die Figur dächte. Statt dessen: „Was wird der Regisseur von mir denken, sehe ich denn auch gut aus?“ oder „Wie war die nächste Zeile noch mal ?“
9 Eine Art, die bestehenden Abzweigungen selbst zu verschieben, liegt darin, die Einstellung in einen anderen Kontext zu stellen, in dem die Zuschauer andere Dinge denken (und bemerken).
10 Das brächte die Zuschauer dazu, gefühlsmässig selbst teilzunehmen. Wenn man andrerseits eine objektive Distanz erzeugen möchte- die Zuschauer also die Auseinandersetzung selbst als Phänomen beobachten lässt-, dann würde man die Anzahl der Schnitte entsprechend verringern.