Kapitel 10

KUNST UND WAHRNEHMUNG
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Julian Hochberg

Aus: Hochberg, Julian (1978) Art and perception. In: Carterette, E. C. / Friedman, M. P. 1978 Handbook of Perception. Vol. X, S. 225-258 . Übersetzt von Sophie Repp und Chris Wright.

I. Einleitung

II. Kunst als Darstellung und Kommunikation über die Welt
A. Darstellende (gegenständliche) Bilder und Wahrnehmungstheorien
B. Die Psychophysik der Surrogate
C. Wahrnehmung bei räumlicher Darstellung
D. Wahrnehmung als zielgerichtetes Verhalten: Schemata, Kanonische Formen und Karikaturen

III. Nicht-darstellende Funktionen von künstlerischen Präsentationen:
die expressive und die ästhetische Funktion
A Ausdruck (Expression) und Gefühl
B Kunst als etwas Angenehmes oder Interessantes: Experimentelle Ästhetik und Präferenz

Literaturhinweise


I. EINLEITUNG

In diesem Kapitel werde ich zum einen versuchen, die Kernstücke der Wahrnehmungstheorie in ihrer Bedeutung für das Verständnis bildlicher und nicht-bildlicher Kunst zu aktualisieren und zum anderen untersuchen, wie die Wahrnehmungstheorie durch das, was wir über die Kunst lernen, beeinflußt wird.
Die Bedeutung der Wahrnehmungspsychologie für die angewandten Künste liegt im Grund auf der Hand. Dabei sind die Unternehmen der Kommunikationsindustrie wohl diejenigen, in denen am häufigsten Entscheidungen bezüglich der Wahrnehmung getroffen werden müssen. In den Nachrichtenmedien, der Werbung und der Verpackungsindustrie wie auch im Unterhaltungssektor stehen die Vorbereitung und Präsentation perzeptueller Informationsträger im Mittelpunkt. Diese Branchen hängen entscheidend von der Anwendung wahrnehmungstheoretischen Wissens ab. Es müssen zum Beispiel Farbpaletten zusammengestellt, Detailgrößen, die für Bild- und Textelemente nötig sind, bestimmt und die Lesbarkeit verschiedener Lettertypen und Formate festgestellt werden. Diese Beispiele, die nur aus der visuellen Psychophysik stammen, bringen sehr viele Fragen mit sich. In der auditiven Psychophysik stellen sich jedoch ähnliche Fragen, die ebenfalls beantwortet werden müssen. Und schließlich gibt es Fragen zu den kognitiven Faktoren, die bestimmen, wie der Mensch seine Aufmerksamkeit auf visuelle und auditive Präsentationen lenkt, und zu jenen Faktoren, die eine Präsentation verständlich machen.
In all diesen Gebieten muß natürlich Wissen über die Wahrnehmung gesucht wie auch angewendet werden, und die Forschung ist hier auch schon weit vorangeschritten. Es gibt aber zwei Bereiche der Kommunikationsforschung, die keineswegs so leicht zugänglich sind. Der erste betrifft die Interaktion von Nachricht und Medium (d.h. die Interaktion der expressiven Eigenschaften des Mediums mit seinem eigentlichen Inhalt). Hier ist sehr wenig bekannt. Wir werden aber sehen, daß es wahrscheinlich möglich ist, erfolgreiche Untersuchungen in diese Richtung anzustellen. Das zweite Forschungsgebiet betrifft die Präsentation als eine beabsichtigte interpersonale Handlung. Selbst ein anscheinend so transparenter und potentiell automatischer Vorgang wie das Fotografieren erfordert eine Auswahl und Vorbereitung - also gezielte Handlungen. Es steht immer eine Person, die einen bestimmten Zweck verfolgt, hinter der Fotografie. Somit wird jeder Betrachter zum Teilnehmer an einem impliziten dyadischen
2 kommunikativen Akt (beispielsweise: “Warum wird mir dieses oder jenes so überraschend detailliert gezeigt?”). Dieser Aspekt ist wahrscheinlich in jeder künstlerischen Präsentation von außerordentlicher Wichtigkeit, insbesondere aber in jenen, wo aufgrund der Art des Mediums eine genaue Kontrolle durch den Künstler angenommen werden kann. Beim Aufbau einer analytischen Logik für kommunikative Akte steht die Forschung jedoch erst am Anfang (Grice, 1968; Schmidt, 1975; Searle, 1969).
Bei beiden besprochenen Aspekten kommen wir unweigerlich zur Unterscheidung zwischen freier und angewandter Kunst, die im wesentlichen eine Frage der Ästhetik oder der Einschätzung ist. In Fällen, wo es nur eine Gestaltungsmöglichkeit für eine kommunikative Präsentation gibt, entscheidet dabei einfach die sensorische Organisation oder Anordnung. Anders ist es aber, wenn es mehrere Möglichkeiten gibt, wenn es eine Tradition gibt, gegenüber der man sich mit der eigenen Art und Originalität absetzen kann, und vor allem dann, wenn bei der Einschätzung eines Kunstwerkes als gut oder schlecht (und damit der Einstufung des Künstlers als lohnend für eine Investition oder eben nicht) eine Menge Veblensches
3 soziales Prestige und einfach finanzielle Mittel auf dem Spiel stehen. Dann gibt es keine einfachen Fragen oder eindeutigen Kriterien mehr. In der angewandten Kunst hingegen können in der Regel mehr oder weniger feste Kriterien herangezogen werden. Zumindest prinzipiell kann hier die Erforschung des Konsumentenverhaltens (mit Meßtechniken der traditionellen experimentellen Ästhetik) auch wahrnehmungstheoretisch überprüft werden. Bei Objekten aber, die um ihrer selbst willen hergestellt werden, muß die Einschätzung auf kultiviertem Geschmack beruhen. Ein großer Teil der Beurteilung eines Werkes hängt dann von unserem Wissen ab, das es uns ermöglicht, das Werk in eine Tradition einzuordnen, es als Teil einer Entwicklung zu sehen und uns an ihm als ein Stück Geschichte zu erfreuen, in der wir natürlich durchaus Spezialisten sein können.

Ich werde hier die Unterscheidung zwischen freier und angewandter Kunst nicht aufrechterhalten, es sei denn, sie ergibt sich als nützlich und natürlich in unserer Diskussion.
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Die Kunstgeschichte und die Ermittlung künstlerischen Ursprungs und künstlerischer Tradition sind einer gründlichen Nachforschung leicht zugänglich. Das Gleiche gilt für wenigstens ein paar Funktionen, die künstlerische Präsentationen erfüllen können. Natürlich muß ein Kunstwerk nicht allen Funktionen Genüge tun. Doch wohl jede Funktion ist im Laufe der Zeit einmal zur Grundfeste für die Einschätzung künstlerischen Könnens erklärt worden. Es verwundert daher nicht, daß Kunstphilosophen und -theoretiker sich in dieser Hinsicht nicht einigen konnten und können, und daß einige sogar die Möglichkeit einer akzeptablen Definition sowohl von Kunst als auch von Ästhetik für unmöglich halten (Kennick, 1958; Weitz, 1956). Künstler selbst haben behauptet, daß die einzigen Kritiker, deren Meinungen man berücksichtigen sollte, andere vergleichbare Künstler sind. Dieses Plädoyer könnte wenigstens in der Hinsicht, daß es das eigentliche Ziel des Künstlers widerspiegelt, gelten: daß er nämlich originelle Lösungen zu Problemen sucht, die sich ihm durch die Geschichte und die Grenzen der Kunstform an sich stellen.
Ich glaube nicht, daß es eine abgegrenzte Welt der Kunst gibt. Im allgemeinen werfen wir einfach eine Menge Aktivitäten, die eine ganze Menge verschiedener Zwecke und äußerst unterschiedliche Kriterien haben, zusammen. Und das, was heutzutage Kunst genannt wird, ist mehr das Ergebnis historischen und soziologischen Zufalls (sowie persönlichen Interesses) als irgend etwas anderes. Dies sehen wir auch daran, daß Leute nicht wirklich in der Lage sind, nur durch Introspektion allein tatsächlich zu erklären, warum sie sich das, was wir hier künstlerische Präsentationen nennen werden (Malerei, Tanz, Film, Musik, Architektur usw.) ansehen oder -hören möchten, oder daß sie ebenso wenig den Grund für ihre Wahl in alltäglicheren Bereichen wie der Mode, der Popmusik, dem Autodesign - also Produkten auch der angewandten Kunst - benennen können.
Die Funktionen und Kriterien der wahrnehmungstheoretischen Untersuchung künstlerischer Präsentationen können in drei Gruppen beschrieben werden, die ich im folgenden kurz skizzieren und anschließend detailliert betrachten möchte.

1. Kunst als Darstellung und Kommunikation über die Welt
Viele wahrnehmungstheoretische Abhandlungen über Kunst untersuchen ausschließlich die darstellende Funktion von Bildern. Es gibt natürlich auch Kunstformen, wie Musik und Tanz, die u.U. keinen gegenständlichen oder programmatischen Inhalt haben, selbst wenn ihn die Formen, von denen sie abgeleitet sind, hatten. Andere Kunstformen, wie z.B. die Architektur, versuchen nur selten, etwas darzustellen. Doch Bildkunst, Schauspiel zum Teil und beschreibende Prosa haben Funktionen objektiver Kommunikation. Was die Bildkunst betrifft, so würden wir Bilder zweifellos auch nur wegen ihrer darstellenden Funktion, unabhängig von ihrem künstlerischen oder anderer Werte nutzen, genau so wie wir Kleidung tragen und Gebäude nutzen würden, wenn uns ihr Aussehen gleichgültig wäre. Es gibt jedoch, wie wir noch sehen werden, keine einzige automatische Methode, um eine Darstellung von der Welt herzustellen (Fotos sind nicht unbedingt besser als Zeichnungen!). Selbst wenn es diese Methode gäbe, ihre Mittel wären für das ungeübte Auge nicht unmittelbar erkennbar. Die Techniken des Malens oder Zeichnens waren lange ein Berufsgeheimnis unter Künstlern. Es ist noch nicht allzu lange her, daß ein Künstler Gebildete und Ungebildete gleichermaßen mit der hohen, detailgetreuen Ähnlichkeit von Porträts und Stilleben mit den jeweiligen Personen oder Gegenständen erstaunen konnte.
Im vergangenen Jahrhundert hat man sich - beginnend in der Malerei, über die Fotografie, bis hin zu den Hologrammen - von der Vorstellung des Künstlers als Abbildendem oder menschliche Camera Obscura wegbewegt. Jener Aspekt der Kunst, der darin besteht, ein Surrogat anzufertigen, das dem Auge die von der dargestellten Szenerie oder dem Ereignis ausgesendeten Lichtwellen wiedergabegetreu imitiert, hat an sich seinen ästhetischen Reiz verloren. Es gibt jedoch Möglichkeiten, Ähnlichkeiten zu erzeugen oder sogar zu verstärken (das Porträt ist dem Modell ähnlicher als das Modell selbst), die noch immer von Interesse sind. Wir können sicher sein, daß es weiterhin Innovationen in der Darstellungsart oder dem -stil geben wird, was uns zu den beiden nicht-darstellenden Funktionen, dem Ausdruck und dem ästhetischen Wert, bringt.
2. Kunst als Ausdruck: Die Vermittlung des Zustands, des Gefühls oder der Identität des Künstlers
Die Funktion der Kunst, das Publikum emotional zu bewegen, oder auszudrücken, wie der Künstler sich fühlt, wird viel häufiger als die Darstellung als Prüfstein des künstlerischen Könnens empfunden. Doch ist auch klar, daß künstlerische Präsentationen ausdrucksvoll sein können und trotzdem nicht als gute Kunst betrachtet werden (selbst die gröbsten Formen von Werbung, Propaganda und Unterhaltung wollen ja das Publikum bewegen). Und ein großer Teil der Kunst hat auch weder darstellenden noch emotionalen Inhalt außer dem, was für das sogenannte ästhetische Gefühl, welches die dritte Funktion ist, benötigt wird.
3. Die ästhetische Funktion: Kunst als etwas Angenehmes oder Interessantes
Der Versuch, das Schöne mit Hilfe von Präferenzentscheidungen zu messen und zu erklären, die an wissenschaftlich feststellbare Eigenschaften des Reizmechanismus_ gebunden sind, hat eine lange Geschichte. Seit der Antike werden Bemühungen angestellt, das Schöne und Angenehme innerhalb physikalisch meßbarer Regeln und Vorschriften zu definieren. In neueren Untersuchungen wurde der Belohnungswert des Angenehmen durch die Neigung weiterzusehen oder -zuzuhören gemessen (als das Gegenteil von Langeweile oder Gewöhnung). Diese evaluative Methode ist für Theoretiker, die Wahrnehmung als einen motivierten Prozeß verstehen, interessanter als die herkömmlichen Präferenzentscheidungen, womit die Frage der Ästhetik für konstruktivistische Wahrnehmungspsychologen unmittelbar relevant wird.
Diese drei Gruppen sind natürlich nicht absolut bindend. Sie können auch nicht wirklich erschöpfend sein. Die meisten Autoren werden sich einig sein, daß eine künstlerische Präsentation in dem Maße erfolgreich, anspruchsvoll und tiefgründig ist, wie diese verschiedenartigen Funktionen (und andere mehr) sich gegenseitig verstärkend zusammenkommen, und zwar indem die expressiven Eigenschaften des Mediums im Zusammenspiel mit dem aktuellen Inhalt genutzt werden (ein klassisches Bestreben, das oft gerade in Bezug auf die Lyrik ausgedrückt wurde). Dennoch, der Besuch eines ausgewogenen Museums wird meines Erachtens zeigen, daß keineswegs alle Funktionen in einem Kunstwerk oder selbst im Opus eines einzelnen Künstlers vereinigt sein müssen.
Im folgenden werden wir für alle drei Gebiete einen Überblick über die Wahrnehmungsforschung und die damit verbundenen Probleme geben.


II DARSTELLUNG UND KOMMUNIKATION ÜBER DIE WELT

A. Gegenständliche (darstellende) Bilder und Wahrnehmungstheorien

Das bei weitem verbreitetste Thema in den Lehrbüchern zur Wahrnehmung ist das gegenständliche Bild als Surrogatobjekt, das als Abbild fungiert, da es dem Betrachterauge fast das gleiche Lichtmuster präsentiert, wie die eigentliche Szene selbst es aussenden würde. Mit dieser Problematik beschäftigen sich die meisten wahrnehmungstheoretischen Untersuchungen der Kunst und, wie wir sehen werden, stützt sie sich auf die Haupttheorien der Wahrnehmung.
Ein sehr kurzer Überblick über die wichtigsten Wahrnehmungstheorien wird genügen, um die verschiedenen Daten- und Analysearten zu unterscheiden, die für die Kunst relevant sind. Die empiristische Assoziationspsychologie, die älteste Theorie, nimmt an, daß alle Bewußtseinserfahrung aus Empfindungen, Gedächtnisbildern von Empfindungen und den willkürlichen Verbindungen zwischen ihnen, die das Gedächtnis des Individuums während seiner Begegnungen mit der Struktur der Umwelt aufbaut, besteht. Die Gestalttheorie lehnte diese mechanistischen und atomistischen Annahmen ab und erklärte, daß das, was wir wahrnehmen, die Struktur der darunterliegenden Gehirnfelder widerspiegelt. Gibsons Theorie, die die Reizvariablen, die in dem das Auge erreichenden Licht zu finden sind, neu untersucht, hat solch einen Reichtum an Informationen gebracht, daß es im Prinzip möglich ist, alle wahrheitsgetreuen Wahrnehmungen der Welt ohne die vermittelnden Prozesse der Assoziationspsychologie oder die organisierenden Prozesse der Gestaltspsychologie zu erklären. Und schließlich gibt es den neuen-alten Versuch, der mit Hebb und Piaget begann, im Grunde aber auf Helmholtz zurückgeht, die Wahrnehmung als einen aktiven Prozeß zu verstehen, bei dem mentale Strukturen (angenommene Objekte, Szenen und Ereignisse) ausgewählten sensorischen Tests zugeordnet werden, und somit selektive Aufmerksamkeit und Schematisierung oder Abstraktion direkt in die Mitte des Wahrnehmungsprozesses gestellt werden.
Wenn wir den klassischen empiristischen Ansatz in zwei Richtungen aufspalten - eine sensorische psychophysische Analyse einerseits und eine kognitive assoziationistische Analyse andererseits (letztere wurde am konsequentesten in der Helmholtzschen Theorie der unbewußten Schlüsse vertreten; diese besagt, daß wir jene Objekte und Ereignisse wahrnehmen, die nach unserer bisherigen Erfahrung am wahrscheinlichsten in unsere gegenwärtige Struktur sensorischer Reizung passen) -, dann sehen wir, daß es zwei ausschließlich psychophysische Ansätze gibt (den klassischen und den Gibsons) sowie zwei Ansätze, die sich auf zusätzliche mentale Struktur berufen (die Nachfolger der Gestalttheorie und die Nachfolger von Helmholtz' Vorstellungen). Alle diese Theorien sind von Ästhetikern und Kunsttheoretikern für alle drei Funktionen, die wir hier untersuchen werden (Darstellung, Ausdruck und ästhetischer Wert), mit variierendem Erfolg herangezogen worden. Zuerst werden wir die Darstellung in dieser Hinsicht betrachten und danach mit den anderen beiden Funktionen fortfahren.


B. Die Psychophysik der Surrogate

Für Leonardo da Vinci war die Aufgabe eines Malers, ein Abbild der Welt zu schaffen. Der Künstler kann diese Fähigkeit erwerben, indem er die Umrisse von Gegenständen einer Szene auf einer Scheibe Glas, die sich zwischen ihm und der jeweiligen Szene befindet, nachzeichnet. Und indem er die Art und Weise, in der sich die Formen und Objekte auf der Bildfläche durch ihre unterschiedliche Anordnung im Raum verändern, untersucht, ist er in der Lage, sich die Techniken für das, was wir heute bildliche oder monokulare Tiefe (Perspektive) nennen, zusammenzustellen.
Dies gab dem Künstler das Werkzeug für die Darstellung der Welt in die Hand, und mit der weiteren Entwicklung der Geometrie der Bildperspektive war es im Prinzip möglich, dem Auge eines stationären monokularen Betrachters die im wesentlichen gleiche räumliche Lichtaufteilung darzubieten, wie sie von der dargestellten Szene produziert werden würde. Da Vinci kannte die Grenzen dieser Technik: der Betrachter muß sich an einem festen Ort befinden und darf nur mit einem Auge schauen, da sonst die Flachheit des Bildes verraten wird. Daher kann der Betrachter im allgemeinen nicht getäuscht werden. In unterschiedlichem Maße und für bestimmte Zwecke können diese Beschränkungen überwunden werden. Zum Beispiel kann den Hinweisreizen für die Flachheit und die Textur der Bildoberfläche dadurch beigekommen werden, daß man die Position des Betrachters mehr oder weniger fixiert, oder indem die Szene auf eine Oberfläche gemalt wird, die nicht in der projektiven Bildfläche liegt (Wenn man beispielsweise die Decke eines Kirchenschiffes als Fläche benutzt, auf die die Fortsetzung der Wände gemalt wird, entsteht die überzeugende Täuschung eines zusätzlichen Stockwerks (Pirenne, 1971)). Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Tiefe in einem Trompe-l_oeil
5 drastisch zu reduzieren.
Der Grund hinter solch einer Perspektiventechnik ist folgender: die Aufgabe vom Standpunkt des Künstlers aus gesehen ist die Darstellung einer Szene durch die Produktion eines Objektes, das, wenn es von der richtigen Stelle aus betrachtet wird, dieselbe Lichtstruktur produziert wie die eigentliche Szene. Wenn einmal festgestellt ist, was abgebildet werden soll, ist die Entscheidung bezüglich der Anordnung der Linien und Farbflächen auf der Leinwand nur noch eine Aufgabe für den Geometer.
Wenn die Struktur auf der Leinwand erstellt ist, können wir das Bild Punkt für Punkt übertragen, vorausgesetzt wir haben die Farbstoffe, die wie die einzelnen Abschnitte des Originals bei isolierter Betrachtung aussehen. Die Klassifizierung und Herstellung der Farben verlaufen nach Regeln, die wie die anderen Berufsgeheimnisse früher nur vom Meister an den Lehrling weitergegeben wurden. In ihrer modernen Version kann man sie heute gemeinsam mit den Minimalpaletten für additive und subtraktive Farbmischungen in den meisten Einführungstexten zur Wahrnehmung finden. Doch sie allein werden nicht ausreichen: die Remissionsbreite von Farbstoffen ist verglichen mit den Leuchtdichten der darzustellenden Szene äußerst eingeschränkt. Darüber hinaus und teilweise gerade wegen dieser Tatsache können Kontrasteffekte, die typisch für die Szene sind (z.B. die durch die Umgebung induzierte Verfärbung von Schatten), nicht automatisch durch die entsprechenden Verfärbungen auf der Leinwand - Punkt für Punkt - erreicht werden. Die Prinzipien des Simultankontrasts können für die Behebung dieser Beschränkung angewendet werden. Sie wurden zuerst im Chiaroscuro (Helldunkel), in dem Rembrandt ein Meister war, ausgenutzt. Durch die Gegenüberstellung von Schatten können scheinbare Helligkeiten verstärkt werden. Die zunehmende Beachtung induzierter Farben wie z.B. in Schatten, die sich über Corot bis hin zu den Impressionisten fortsetzte, gab den Kontrastgesetzen für das Bild eine erhöhte Bedeutung.
Mit den Gesetzen der Farbmischung und des Farbkontrasts und mit nur wenigen Farbstoffen kann der Maler oder Drucker viel genauer die Farben einer großen Vielfalt an Objekten und einer viel größeren Auswahl von Lichtverhältnissen und Helligkeiten nachempfinden, als dies mit der Remissionsbreite, die die Farbstoffe allein bieten, möglich ist. Außerdem können die Farbmuster und die Nachbilder, die sie produzieren, für die Erzeugung von Dynamik- und Bewegungseffekten genutzt werden, die dann helfen können, die inhärenten Beschränkungen der Leinwand zu überwinden. Diese Effekte können für nicht-darstellende Zwecke benutzt werden und Scheinbewegungen auf der stationären Leinwand oder Druckseite erzeugen. Dieses expressive, aktive Element wird in der optischen Kunst genutzt. Und zwar werden die Moirés
6 regelmäßiger Hochkontrastmuster über die verschobenen Nachbilder der Muster gelegt und verstärken somit leichtes Zittern des Auges sowie andere unbemerkte Augenbewegungen, die für die Verschiebungen verantwortlich sind, und machen sie auf diese Art und Weise sichtbar. Die Effekte von Dynamik und Bewegung haben sich vor allem die Impressionisten zunutze gemacht - aus den folgenden Gründen.
Farbstoffe können auf verschiedene Art gemischt werden (z.B. physisches Vermischen, Glasurauflage und ähnliches), so daß durch sukzessiv dazwischengegelegte Farbstoffilter subtraktive Farbmischung entsteht. Auf der anderen Seite können Farben additiv gemischt werden, indem kleine Flächenelemente nebeneinander positioniert werden. Wenn diese Farbflächen so klein sind, daß sie jenseits der Grenzen des Farbauflösungsvermögens liegen, entsteht eine additive optische Farbmischung. Genau dies versuchten die Pointillisten umzusetzen. Sie wollten das Licht einer Szene wissenschaftlich darstellen, in dem sie eine Reihe unterschiedlicher Remissionen und Farbsättigungen beibehielten, die sonst im Prozeß der subtraktiven Farbmischung verloren gehen. Allerdings sind die Farbpunkte, die in den meisten impressionistischen Bildern angewendet werden, viel zu groß, um jenseits des Farbauflösungsvermögen des fovealen
7 Sehens - innerhalb in einem Museum realisierbarer Abstände (z.B. für einen Monet bräuchte man etwa 20m, für einen Van Gogh etwa 90m) - zu liegen. Warum kommt Farbmischung dann aber eigentlich vor? Zum Teil findet, wenn zwei Farbpunkte innerhalb der unmittelbaren Umgebung des rezeptiven Feldes8 einer einzelnen Netzhautzelle liegen, deren Aufgabe es ist, die einzelnen Farbpunkte auszumachen, eher eine Assimilation der Punkte statt als ein Kontrast (Jameson & Hurvich 1975). Hinzu kommt das wesentlich geringere Auflösungsvermögen des parafovealen und des peripheren Sehens verglichen mit dem fovealen Sehen. Bei fovealer Sichtbarkeit der Punkte erscheint die Mischung beim richtigen Betrachtungsabstand in der Peripherie und aktiviert die Zelle ähnlich wie es das Tageslicht tut (Jameson & Hurvich, 1975). Das bringt uns zu einer weiteren Entwicklungsschiene, die wir von Rembrandt über Monet bis hin zu den Expressionisten verfolgen können.
Wenn der Betrachter seine Fovea auf einen bestimmten Abschnitt der Leinwand fixieren und der Künstler diesen Abschnitt mit allen Einzelheiten malen würde, die Teile des Gemäldes aber, die weiter entfernt von dem Punkt sind, der mit dem fovealen Sehen eingefangen wird, gröber und gröber malt, könnte der Betrachter nicht einmal ahnen, daß das Bild nicht überall gleichmäßig detailliert gemalt worden ist. Wenn der Künstler umgekehrt wollte, daß der Betrachter auf einen bestimmten Bildausschnitt schaut, könnte er ihn dazu veranlassen, indem er nur diesen einen Abschnitt in all seinen Einzelheiten gestaltet. Die Art und Weise, in der Details verteilt sind, ist also prinzipiell eine Frage der Bilddramaturgie. Sowohl bei Rembrandt als auch bei Eakins gibt es deutliche Beispiele für diese Methode, so daß wir annehmen können, daß westliche Maler dieses Phänomen kannten. Die grob gemalten und verschwommenen Abschnitte der Leinwand, die für das periphere Sehen vorgesehen sind, können ganz einfach mit peripherem Sehen gemalt werden oder aber indem man nach jedem Pinselstrich einen Schritt zurücktritt, um über den nächsten Strich zu entscheiden. Wenn Gemälde, die wie die Rembrandts oder Eakins diese Technik benutzen, vom richtigen Abstand aus betrachtet werden, und der Blick auf den detaillierten fokalen Abschnitt gerichtet ist, erscheinen sie vollständig und glaubhaft.
Sehen wir uns nun ein impressionistisches Gemälde an, in welchem die Fovea überall nichts als Punkte findet, und wo das Auge normal erscheinende Formen nur in der Peripherie sieht. Der Betrachter wird bald feststellen, daß die Anordnung der Punkte, die der Blick aufnimmt, nicht zufällig ist, wie es zunächst scheint, wenn das Auge stillgehalten wird. Im Gegenteil, wenn der Blick auf etwas Anderes gerichtet wird, wird die Anordnung plötzlich zu einem klaren Bild einer Landschaft oder einer Person. Dieser Effekt vermittelt ein Gefühl von Richtigkeit und Unveränderbarkeit des Kunstwerkes, was meiner Meinung nach im wesentlichen das ausdrückt, was wir unter ästhetischer Qualität bei richtigen Bildern verstehen (im Gegensatz zum Geschmack, der bei nicht gezielt geschaffenen oder zufälligen Ereignissen entscheiden kann, oder auch im Gegensatz zu zufälligen Punktmustern oder Vielecken). Außerdem wird dem Betrachter gezeigt, daß seine aktive Teilnahme an der Konstruktion des Bildes gefordert ist. Mir ist kein Forschungszweig bekannt, der darstellt, daß solche speziellen Effekte tatsächlich einen Einfluß auf die Reaktion auf oder Bewertung von solchen Bildern darstellt. Wir werden uns in einem anderen Zusammenhang noch den allgemeineren Fragestellungen zuwenden, zu denen diese beiden Punkte gehören. Im folgenden wollen wir untersuchen, wie sich dies alles in Bezug auf die Darstellung gestaltet.
Mit einer guten Farbpalette, dem Wissen über Farben und deren Interaktion und der Kenntnis der projektiven Geometrie (oder dem Werkzeug der Perspektiventechnik) kann der Künstler Muster auf die Leinwand oder das Papier bringen, die als Surrogate für dreidimensionale Räume und Körper fungieren. Bis hierher hat die Psychologie nur das Rohmaterial aus der Psychophysik des Auflösungsvermögens und der Farbmischung geliefert. Die Geometrie liefert die Muster, in denen die Farben verteilt werden müssen, und somit haben wir eine Technik für die Herstellung darstellender Bilder. Nachdem Daguerre im Jahre 1839 die Leinwand des Künstlers gegen lichtempfindliche Platten ausgetauscht hat (Szarkowski, 1973), braucht das Surrogat, so wie wir es betrachtet haben, keinen Künstler mehr.

C. Wahrnehmung bei räumlicher Darstellung

Das Trompe-l_oeil und die Szene, die es darstellt, haben die gleiche Wirkung auf das Auge. Und natürlich gibt es unzählige Reizanordnungen, die dasselbe tun. Diese Feststellung ist spätestens seit Bishop Berkeley
9 bekannt. Daher stimmt es auch, daß unzählige Szenen zu einem einzigen Bild passen würden, und daß das Bild notwendigerweise mehrdeutig ist - wir können nicht drei Dimensionen mit nur zweien definieren.
Warum nehmen wir von dieser Vielzahl der Szenen nur die eine wahr, die der Künstler darstellen wollte? Und warum meinen wir, die Welt zu sehen, wenn das einzige, das uns zur Verfügung steht, ein notwendigerweise mehrdeutiges Netzhautbild ist? (Durch dieses letzte Problem wurden gegenständliche Bilder und die Perspektive mit ihren Hinweisreizen sowohl für Philosophen als auch für Psychologen besonders interessant.)
Die klassische Antwort auf diese Frage ist, daß wir in Ermangelung spezieller nervlicher Energien für eine Abstandsmessung die Welt nur sehen können, weil wir gelernt haben, die visuellen Hinweisreize mit den taktil-motorischen Erfahrungen, die wir im Umgang mit dreidimensionalen Anordnungen der Welt gemacht haben, in Verbindung zu bringen. Wenn wir der Argumentation folgen, die von Berkeley begründet und von Helmholtz und Brunswik weitergetragen wurde, können wir schlußfolgern, daß der Betrachter notwendige mentale Strukturen mitbringt: er nimmt ein Objekt als weiter entfernt wahr, weil die Perspektive auf dem Netzhautbild als konvergent wahrgenommen wird, und er sieht es als größer als ein anderes Objekt, das auf dem Netzhautbild gleich groß ist, weil es (aus einem bestimmten Blickwinkel) weiter entfernt erscheint. Die physikalischen Regeln der visuellen Ökologie
10 sind in die Wahrnehmungsgewohnheiten des Betrachters eingebaut. Alle Tiefenreize sind Symbole. Sie erlangen ihre Wirkung durch die frühere Verbindung mit anderen Tiefenreizen, mit den Bewegungen und Berührungen, die die Erlebnisse des Betrachters mit sich gebracht haben. Obwohl hin und wieder Fehler in der wahrgenommenen Struktur, die aus solchen sensorischen Reizen abgeleitet wird, auftauchen, werden sie aller Wahrscheinlichkeit nach häufiger wahr als falsch sein.
Wenn das Licht, das Bilder reflektieren, im Prinzip identisch mit dem Licht ist, das eine reale Szene reflektiert, brauchen wir keine speziellen Erklärungen für Bilder. Sie werden genauso wahrgenommen wie die Welt selbst. Wenn aber das vom Bild reflektierte Licht anders ist, hat der Empiriker zwei Möglichkeiten. Entweder haben Bild und Szene genug Reize gemeinsam, so daß wir es im Prinzip mit dem gleichen Phänomen zu tun haben, oder aber Bild und Szene sind äußerst verschieden (beispielsweise Bleistiftlinien auf Papier). Dann muß die Bildwahrnehmung selbst gelernt werden. Diese Auffassung ist auch in der Kunsttheorie und -philosophie wiederzufinden. Jede künstlerische Konvention ist nämlich willkürlich und erlernt oder erfunden (vgl. Goodman, 1968; Wollheim, 1963). Damit macht es Sinn, über eine Sprache des Sehens zu sprechen, die durch die Künstlergemeinschaft fortlaufend und willkürlich geschaffen und verändert wird (vgl. Kepes, 1964). Wir werden gleich auf diesen Aspekt zurückkommen.


In der Gestaltpsychologie mit ihrer Theorie der zugrundeliegenden Gehirnfeldstruktur sind die Gesetze der Wahrnehmungsorganisation und nicht die der ökologischen Wahrscheinlichkeit die Determinanten der Wahrnehmung (abgesehen davon, daß sich das Gehirn nach ökologischer Wahrscheinlichkeit im darwinistischen Sinne entwickelt hat).11 Laut Gestalttheorie sehen wir das einfachste oder homogenste Bild, das zur Reizvorlage paßt. In der Tat können die meisten der klassischen bildlichen Tiefenreize gleichermaßen als Beispiele für die Einfachheit wie auch für die Bekanntheit herangezogen werden (Hochberg, 1974b). [Sie können also mit beiden Ansätzen (Gestalttheorie und klassische Helmholtzsche Linie) erklärt werden.] Da nun die Gestalttheorie die Darstellung als ein Ergebnis von Wahrnehmungsorganisation und nicht von Wahrnehmungsgewohnheiten sieht, müßten sowohl die Haupteigenschaften der Raumwahrnehmung als auch die derjenigen Bildwahrnehmung, die den gleichen Organisationsprinzipien folgt, für jeden Betrachter gelten, unabhängig von seiner Erfahrung mit Bildern.
Die Figur-Grund-Unterscheidung war für die Gestaltpsychologen das wichtigste Phänomen der visuellen Wahrnehmung. Im allgemeinen wird die Form der Figur erkannt, wohingegen der Grund formlos und weiter weg ist, ja sich scheinbar hinter der Figur befindet. Was als Figur wahrgenommen wird (und damit was in einem Bild wahrgenommen wird), hängt von den sogenannten Gestaltgesetzen ab. Eine bequeme und schnelle Methode, um die Gestaltgesetze zu erforschen, ist die Manipulation von Zeichnungen derart, daß deutlich wird, warum die Form einer bestimmten Fläche als Figur oder eben als nicht erkennbarer Grund wahrgenommen wird. Auf diese Art kann man ebenso festlegen, wie der Künstler ein Objekt, das er zeichnet, als Figur erscheinen lassen und somit bestimmen kann, daß es so wahrgenommen wird, wie er es möchte (z.B. eher als Objekt denn als Fläche).
Dies zeigt eine wichtige Grenze der Theorie der Darstellung, wie wir sie bisher besprochen haben, auf. Die bloße Reproduktion der Lichtverhältnisse der ursprünglichen Szene reicht nicht aus, um sicherzustellen, daß der Betrachter das sieht, was der Künstler ihm zu zeigen beabsichtigte. Jeder, der schon einmal einen Schnappschuß von einem Blumentopf, der aus dem Kopf einer Person herauswächst, gemacht hat, weiß, daß selbst das perfekte Surrogat durch eine Verletzung der Gestaltgesetze (hier das Gesetz der “guten Fortsetzung”) unglaubwürdig oder unverständlich werden kann. Daher scheinen die Gestaltgesetze für Künstler direkt relevant zu sein, und das theoretische und graphische Interesse für Mechanismen, die eine Sache ganz unterschiedlich erscheinen lassen können, ist in vielen Kunstwerken wiederzufinden (z.B. Tchelitcheffs Hide and Seek (Verstecken); Arps umkehrbare Amöben; und die Figur-Grund-Übungen von Escher und Albers). Auch Arnheims Aufsätze und Bücher zur Kunstpsychologie, die vor dem Hintergrund der Gestaltpsychologie geschrieben wurden, beschäftigten sich viel mehr mit den Belangen des Künstlers als dies je in theoretischen Abhandlungen, die der Kunst zuvor gewidmet worden waren, geschehen war (vgl. Arnheim, 1966, für eine Aufsatzsammlung; 1954, für eine Zusammenfassung dieser Sichtweise).
In den letzten Jahren haben allgemeinere Versionen der Gesetze der Wahrnehmungsorganisation - meist aus der Sicht der Informationstheorie formuliert - einigermaßen erfolgreich voraussagen und auch Anleitungen dazu geben können, wie eine Figur dimensional weniger mehrdeutig (Gegenstand vs. Fläche) gemacht werden kann (vgl. Attneave & Frost, 1969; Hochberg & Brooks, 1960).
12 Wir werden später sehen, daß sowohl der gestalttheoretische Ansatz als auch seine Nachfolger ungefähr an die Wahrheit herankommen, doch es wäre ein Fehler sie heutzutage als theoretische Erklärung der Bildwahrnehmung oder als brauchbaren wahrnehmungstheoretischen Ansatz ernstzunehmen.
James. J. Gibson hat die Behauptung aufgeworfen, daß für die Erklärung der Wahrnehmung im allgemeinen und der Tiefenwahrnehmung im speziellen weder die Helmholtzsche mentale Struktur noch die Gestaltorganisation herangezogen werden müssen. Die Information im proximalen Reiz
13 genügt für eine direkte (d.h. nicht durch mentale Strukturen u.ä. vermittelte), korrekte Wahrnehmung von Oberflächen und Gegenständen. Die Reizvariablen höherer Ordnung, wie z.B. Textur(dichte)gradienten14, bestimmen die Wahrnehmung solcher strukturellen Komponenten wie Flächen, Ecken, Kanten etc. Ein Bild ist ein Surrogat einer Szene, weil es dem Auge die Information anbietet, die es benötigt, um die Szene zu sehen. In dem Grad, wie das Bild die gleichen Informationen liefert (daß es ein bestimmtes Maß an Wiedergabetreue hat), in dem Grade wird es auch auf die gleiche Art und Weise wahrgenommen wie die echte Szene (Gibson, 1950, 1951, 1954, 1966, 1971).
Was ist aber nun mit den vielen Bildern, die diese Eigenschaften nicht aufweisen (z.B. Umrißzeichnungen auf einem Blatt Papier), oder deren eigene Neigung und Abstand zum Betrachter als Papier oder Leinwand die Information ist, die dem Auge geliefert wird, wodurch die Wahrnehmung der dargestellten Tiefen oder Neigungen erheblich beeinflußt wird? Sollten diese Bilder nicht bloß als Farbmuster auf Papier betrachtet werden, was sie ja in Wirklichkeit sind? Obwohl Gibson mehrere Lösungen zu diesem Problem herausgearbeitet und entscheidend zum Verständnis der Bildwahrnehmung in diesem Prozeß beigetragen hat, und obwohl seine Darstellungen der Bildwahrnehmung mehrmals überprüft worden sind (Hagen, 1974; Kennedy, 1974), finde ich die Kombination der Bildwahrnehmung mit seiner Theorie nicht besonders glücklich. Das entscheidende Problem wird nicht gelöst. Wenn ein spezieller Lernprozeß in einer Erklärung der Bildwahrnehmung Gibsonscher Prägung benötigt werden sollte, wäre dieser auf jeden Fall auf jene Aspekte der Information gerichtet, die Bilder und Welt teilen, und nicht auf eine willkürliche Folge von Wahrnehmungsgewohnheiten.
Anders als die Gestalttheoretiker würden weder Gibson noch die Vertreter des Helmholtzschen Ansatzes die Möglichkeit der Bildwahrnehmung als erworbene Fähigkeit ablehnen. Tatsache ist leider, daß die Fakten keineswegs eindeutig sind, zumindest scheinen aber die theoretisch wichtigen Eigenschaften der Bildwahrnehmung keinen besonderen Lernprozeß zu erfordern. Um Strichzeichnungen wahrzunehmen, braucht man keine spezielle Unterweisung in ihre Bedeutung (Hochberg & Brooks, 1962a; Kennedy, 1977). Außerdem steht fest, daß Bildwahrnehmung keine willkürliche, konventionalisierte Fähigkeit ist, wie zum Beispiel das Lesen. Wenn sie überhaupt erworben werden muß, geschieht das im Umgang mit der wirklichen Welt. Wir werden zu diesem Aspekt später zurückkehren. An dieser Stelle sei aber darauf hingewiesen, daß eine mögliche angeborene Fähigkeit, Strichzeichnungen wahrzunehmen, auch bedeutet, daß wenigstens ein Teil der Figur-Grund-Unterscheidung der Gestaltpsychologen angeboren ist. Das geübtere “Lesen” von Objektumrissen beim älteren Kind beispielsweise scheint eine verbesserte Fähigkeit widerzuspiegeln, Linien als zu mehr als einer Form gehörig wahrzunehmen (Ghent, 1956), wie auch Objekte wahrzunehmen, von denen nur teilweise - oder noch nicht einmal die Hälfte der - Umrisse gegeben sind (Gollin, 1960). Dennoch, was auch immer den Betrachter grundsätzlich dazu veranlaßt, Umrisse als den Objektkanten äquivalent aufzufassen, es ist nicht das Erlernen von “Symbolen”.
Das bedeutet aber nicht, daß bildbezogenes Üben keine Rolle bei der Fähigkeit eines Betrachters spielt, Abstände und Größenrelationen in Bildern zu interpretieren (Olson, 1975; Yonas & Hagen, 1973), insbesondere auch bei äußerst reduzierten Bildern. Es gibt zum Beispiel einige Hinweise darauf, daß Afrikaner mit wachsender Erfahrung mit Bildern räumliche Anordnungen, die wenig und einigermaßen uneindeutige lineare Perspektive aufweisen, besser wahrnehmen können (Hudson, 1960, 1962, 1967; Kilbride & Robbins, 1968; Mundy-Castle, 1966). Diese Ergebnisse können allerdings aus verschiedenen theoretischen und empirischen Gründen in Frage gestellt werden (Deregowski, 1968; Hagen, 1974; Hochberg, 1972b, S. 501; Kennedy, 1977; Omari & Cook, 1972). Weiterhin erfolgt, wie wir gesehen haben, mit zunehmendem Alter eine Verbesserung der Fähigkeit, Alternativobjekte in Umrißzeichnungen zu vervollständigen und damit zu erkennen. Dessenungeachtet können wir aus der Existenz einer angeborenen Fähigkeit, mit Umrißdarstellungen von Objekten und Szenen umzugehen, auf jeden Fall schlußfolgern, daß Definitionen der bildlichen Darstellung, die sich nur auf die Wiedergabetreue des Surrogats stützen, nicht ausreichen. Wie wir gesehen haben, ist eine solche Definition ungenügend. Die Tatsache, daß Bilder, die in Umrissen gezeichnet sind, d.h. mit Farblinien auf Papier (Gibson 1951), auf natürliche Art und Weise erkannt werden, beweist auch, daß Wiedergabetreue in der Anordnung nicht einmal notwendig ist. Wenn eine Linie auf dem Papier vom Betrachter als gleichwertig mit der abrupten Veränderung der Texturdichte, die an einer Objektkante auftritt, erachtet wird, dann spiegelt dieses Phänomen eine Eigenschaft des Betrachters und nicht des Lichtes am Auge wider.
Zwei andere Bildphänomene zeigen auf recht unterschiedliche Weise, daß projektive Wiedergabetreue weder notwendige noch hinreichende Bedingung für die Produktion erkennbarer Darstellungen ist.
Wenn ein Bild aufgefaßt wird als ein Surrogatobjekt, das von einem mathematisch korrekten Fixpunkt aus betrachtet werden muß, (Solange die Geometrie stimmt, kann ein Bild, das von der richtigen Position aus gesehen wird, tatsächlich mit einer echten Szene verwechselt werden, selbst wenn es in einer anderen Hinsicht nicht naturgetreu wiedergegeben ist (Gibson, 1951; Smith & Smith, 1961)), dann müßte sich die Szene, die das Bild darstellt, mit jeder Veränderung in der Betrachterposition verändern. Die Bewegung des Betrachters sollte im Grunde deutlich machen, daß das Bild keine echte Szene sondern nur eine gemusterte plane Oberfläche ist. Doch was passiert eigentlich, wenn ein Bild vom falschen Betrachterort aus gesehen wird?
Pirenne (1970) bringt zwei wichtige Einwände bezüglich obiger psychophysischer oder geometrischer Erklärung der Bildwahrnehmung. Erstens werden Bilder natürlich von allen Seiten und aus unterschiedlichen Abständen betrachtet, ohne daß sie sichtlich verzerrt erscheinen. Er behauptet, daß dies damit zusammenhängt, daß wir wissen, daß das Bild eine gemusterte plane Oberfläche ist (aufgrund des Rahmens, der Textur und unserer binokularen Parallaxe etc.). Aufgrund dieses Wissens können wir die durch den veränderten Betrachterstandort entstandene Neigung des Bildes kompensieren, und zwar indem wir auf das Muster, das sich auf seiner Oberfläche befindet, reagieren. Zweitens stellen Künstler bestimmte Gegenstände (besonders bekannte) so dar, als ob ihre wichtigsten Flächen parallel zur Bildfläche lägen, unabhängig von der gewählten Ausrichtung des Objekts. Pirenne bringt vor, daß der Betrachter auf diese Art und Weise einfach nur die Neigung der Bildfläche kompensieren muß, um auch die Neigung der dargestellten Objektoberflächen zu kompensieren. Diese beiden Aspekte sind sowohl für die Kunsttheorie als auch für die Wahrnehmungs- und kognitive Psychologie von Bedeutung. Wir werden sie getrennt voneinander untersuchen, da sie doch recht unterschiedliche Auswirkungen haben.
Die Kompensation von Distanz- und Neigungsdifferenzen setzt den gesamten Wahrnehmungsprozeß bildlichen und wirklichen Raumes in eine Helmholtzsche Perspektive, da sie notwendigerweise auf das Wirken mentaler Struktur schließen läßt (d.h. die Anwendung unbewußten Wissens über geometrische Verbindungen in der realen Welt). Dies würde bedeuten, daß wir die transparente Psychophysik Da Vincis Fensters und Gibsons direkter Wahrnehmungstheorie mit einem System vermittelnder kognitiver Strukturen ersetzen müßten, selbst wenn dieses sehr vage wäre. Die Wirkung der Kompensation bei der Bildwahrnehmung interessiert also nicht nur Museumsdirektoren und Galeristen. Die Frage hat theoretische Tragweite. Gibt es eindeutige Beweise für eine solche Kompensation? Noch ist die Frage unbeantwortet. Farber und Rosinski (1978) haben gezeigt, daß eine Erhöhung des Betrachterabstandes Vergrößerung und komprimierte Tiefe im Bild bewirkt, und daß bei einer Verringerung des Abstandes das Bild verkleinert und die Tiefe verstärkt werden. Außerdem tritt bei einer Veränderung des Blickwinkels eine Deformation auf, bei der parallele Flächen parallel bleiben, sich aber parallel zueinander bewegen (d.h. ein Würfel wird zu einem nichtrechtwinkligen Parallelepipedon
15). Was den Betrachterabstand betrifft, unterstützt übrigens auch die Verdichtung, die bekannterweise beim Fotografieren oder Filmen mit Teleobjektiven entsteht, die Annahme, daß die Betrachterposition eine Rolle spielt. Dies ist auch in Laborexperimenten bestätigt worden, in denen die Veränderung des wahrgenommenen Abstands auf Fotos (d.h. die Wahrnehmung der Tiefe) als eine Funktion der Differenz zwischen dem Betrachterabstand der Versuchsperson zum Foto und dem Abstand der Kamera zum Objekt gemessen wurde (Smith & Gruber, 1958). Die wahrgenommene Größe abgebildeter Gegenstände war allerdings nicht von der Veränderung der jeweiligen Position abhängig (Smith, 1958), wie das eigentlich laut Geometrie der Fall hätte sein müssen. Was nun Veränderungen des Blickwinkels betrifft (also das Betrachten des Bildes mit unterschiedlichen Neigungswinkeln zur Bildoberfläche), macht die anamorphotische Malerei deutlich, daß es einen Punkt gibt, hinter dem die Neigung des Bildes keine Rolle mehr spielt. (Bei anamorphotischen Bildern kann der Betrachter die gewünschte Szene nur sehen, wenn er auf das Muster proximaler Reize, die auf das Auge treffen, reagiert, nicht aber, wenn er auf das verzerrte Muster auf dem Gemälde reagiert, das so gemalt ist, daß es von einem extremen Gesichtswinkel aus gesehen werden muß (Clerici, 1954)). Außerdem gibt es einige Hinweise darauf (Gombrich, 1972b), daß bei Bewegung des Beobachters eine Scheinbewegung im Bild stattfindet, und zwar so, wie sich eine Szene verändern würde, wenn es keine Kompensation gäbe. Andere Laborexperimente haben jedoch gezeigt, daß der Blickwinkel (mit Ausnahme besonders extremer Winkel) keinen Effekt auf die scheinbare Größe (Hagen, 1976), Neigung (Rosinski et al., 1977) oder Form von Gegenständen (d.h. ihre Rechtwinkligkeit oder Nicht-rechtwinkligkeit; Perkins, 1973) hat. Die meisten dieser Forscher schlußfolgern daraus, daß irgendeine Form von Kompensation der Bildebene stattfinden muß. Dies könnte zutreffen, es muß aber noch eindeutig bewiesen werden.
Es könnte sein (Hochberg, 1971), daß die Kompensation, die Pirenne vorschlägt, eine unvermittelte Reaktion ist auf die Relation der Textureinheiten in den verschiedenen Abschnitten einer Form im geneigten Bild, wie Gibson es eigentlich bereits 1950 zu bedenken gegeben hatte. Da beide Verzerrungsformen, die aus Veränderungen des Betrachterortes resultieren, miteinander verwandte Transformationen sind (Farber & Rosinski, 1977), würden die Relationen der Textureinheiten bei jeder Veränderung des Betrachterortes invariant bleiben. Das Vorhandensein einer Form von Kompensation ist also noch nicht gesichert, was auch für die mentale Struktur, die sie voraussetzen würde, gilt.
Es gibt noch eine andere Möglichkeit (Hochberg, 1971), die einen noch weiteren Komplex anschneidet. Es könnte sein, daß Verzerrungen wahrgenommen werden und ihnen lediglich keine Aufmerksamkeit geschenkt wird. Sehen wir uns an, was das bedeuten könnte, indem wir uns dem zweiten Aspekt, den Pirenne als problematisch für die projektive Wiedergabetreue anführte, zuwenden. Um ein Bild richtig aussehen zu lassen, müssen oft Unregelmäßigkeiten in die Bildperspektive eingefügt werden. Dies ist nicht nur eine Sache der Eigenheit des Malers. Wenn man Versuchspersonen Gegenstände zeigt, die in Parallelperspektive gemalt worden sind (dies wäre natürlich nur korrekt, wenn sie aus unendlichem Abstand betrachtet würden), beurteilen sie sie als realistischer und genauer als solche in konvergenter Perspektive, die für ihren Betrachterstandort eigentlich richtig wäre (Hagen & Elliott, 1976). Dies hat weit größere Auswirkungen als nur auf die Raumdarstellung. Wenn ein Künstler einen Gegenstand als Kreis zeichnet, selbst wenn die Perspektive des übrigen Bildes eine Ellipse verlangt, hat er eine Unregelmäßigkeit verursacht, die für unser Auge nur einen milden Verstoß darstellt. Die Bilder von Escher und Albers (wie auch einige von Piranesi) sowie die Laborzeichnungen von Penrose & Penrose (1958) und Hochberg (1968) zeigen, daß mit Linien und sogar Schatten Bilder von Gegenständen konstruiert werden können, die schlicht und ergreifend unmöglich sind: z.B. sieht ein dreidimensionaler Gegenstand, dessen Ecken in entgegengesetzte Richtungen zeigen, die aber mit durchgehenden Linien verbunden sind, trotzdem wunderbar dreidimensional aus, und die Unregelmäßigkeit erscheint nicht offensichtlich, es sei denn, der Betrachter sucht nach ihr, oder die widersprüchlichen Elemente werden dicht beieinander positioniert (Hochberg, 1968).
Ich denke, daß diese bildlichen Phänomene für ein Verständnis der Psychologie im allgemeinen von äußerster Wichtigkeit sind und daß sie entscheidend dazu beitragen werden, die Kunstpsychologie mehr in das Licht der Aufmerksamkeit zu rücken, da sie ihr Untersuchungsfeld erweitern und damit von größerem Interesse für Künstler und Ästhetiker sein wird. Was in diesen unmöglichen Bildern zu passieren scheint, ist folgendes: Der Betrachter sieht die Tiefenanordnung, die von jeder Ecke dargestellt wird, nur dann, wenn er direkt draufschaut. Und das, was peripher gesehen wird, reicht nur, um sehr grobe Felder von Licht und Form zu erkennen. Der Betrachter muß also jeden Gegenstand, jede Szene oder jedes Bild mit einer Folge gerade solch beschränkter Blicke ansehen. Und wenn er nicht den bewußten Versuch unternimmt, die Folgen der räumlichen Analyse eines Blickes für den nächsten abzuschätzen (also ihre gegenseitige räumliche Beziehung durch die Formulierung und Überprüfung bestimmter Erwartungen zu untersuchen), dann kodiert oder speichert er weder alle Eigenschaften des Gegenstandes noch alle räumliche Information, die zur Verfügung stand (Hochberg, 1968, 1970, 1972a, 1974b). Im folgenden werden wir uns diesen Problemen widmen, um danach ihre Beziehung zu den nicht-darstellenden Funktionen der visuellen und nicht-visuellen Kunst zu untersuchen.


D. Wahrnehmung als zielgerichtete Handlung:
Schemata, Kanonische Formen und Karikaturen

Wenn wir unsere Definition visueller Kunst nicht auf das wiedergabegetreue Surrogat oder das Trompe-l_oeil beschränken, sehe ich keine Möglichkeit, wie unser psychophysisches Wissen bezüglich der Farbmischung und der Geometrie der distal-proximalen Projektion mehr als nur von technischem und recht eingeschränktem Interesse sein kann. Doch mit der Untersuchung der unmöglichen Körper und deren Auswirkungen erweitert sich unser Spielraum plötzlich beträchtlich. Wie gestaltet das sich bis hierher erworbene Wissen in Bezug auf unsere ursprüngliche breitere Definition von Kunst und künstlerischen Präsentationen? Ich werde kurz den Fall skizzieren, der in den oben zitierten Arbeiten genauer untersucht wurde.
Die unmöglichen Körper erinnern uns daran, daß wir unsere Augen in ballistischen Sakkaden
16 bewegen, so daß ein Punkt, der zunächst nur vage in der Peripherie gesehen wird, in die zentrale, genaue Sicht der Fovea wandert. Wenn wir ein Bild betrachten, können wir unser Auge nicht überallhin wenden. Zuerst wird das Auge auf die Teile des Bildes gerichtet, die am informativsten zu sein versprechen (laut Abschätzungen von Versuchspersonen und Definitionen von Forschern (Antes, 1974; Brooks, 1961; Hochberg & Brooks, 1962; Loftus, 1976; Mackworth & Morandi, 1967; Pollack & Spence, 1968)), und die die wichtigsten Elemente der Komposition berühren (Bouleau, 1963; Buswell, 1935; Molnar, 1964, 1968), letzteres bezüglich des Designs betrachtet. Wir bewegen unsere Augen zielgerichtet, erwartungsvoll und gespannt darauf, wo wir dieses Ziel erreichen werden. Diese Bewegung wird durch das, was wir in der Netzhautperipherie wahrnehmen, gesteuert, und zwar unter Zuhilfenahme der Redundanz17 normaler Szenen und Bilder (ein bestimmter Gegenstand wird ja in einer normalen, gewohnten Anordnung leichter wiedergefunden, als wenn er sich an einem kunterbunt durcheinandergebrachten oder an einem ungewohnten Ort befindet (Biedermann, 1972)).
Wir schauen uns Bilder (und die Welt) stückchenweise an und erhalten aufeinanderfolgende Blicke, denen wir das Wahrgenommene für den Aufbau eines Ganzen zuordnen müssen (Gombrich, 1963; Hochberg, 1968). Einige Gedanken über die anamorphotische Malerei werden uns dies noch ein wenig drastischer verdeutlichen und uns auch mehr Aufschluß über die normale Wahrnehmung von Bildern und der Welt geben. Das, was ein anamorphotisches Bild zeigt, ist, wie oben bereits beschrieben, nur zu erkennen, wenn es von einem extremen Gesichtswinkel aus betrachtet wird. Um solch ein Bild zu sehen, müssen wir die foveale Information über Punkte, die sich in unterschiedlichem Abstand zu uns befinden (die Bildebene ist schief), zu einer Szene zusammenfassen. Die Abschnitte, die dann bei einem Blick außerhalb unserer Fovea liegen, sind nicht nur schlecht sichtbar, weil sie in die Peripherie fallen, sondern außerdem, weil sie unscharf, nicht im Brennpunkt sind - sie liegen weiter weg oder näher als der Punkt, auf den unser Auge momentan gerichtet ist. Trotzdem ist das, was wir aus diesen äußerst begrenzten Blicken zusammenbauen und wahrnehmen ein scheinbar vollständiges Bild, anscheinend frei und unabhängig von der Bildoberfläche, die ja der eigentliche Informationsträger ist. Das Bild existiert nur als mathematische Abstraktion im Raum und als Konstruktion in der Vorstellung des Betrachters.
Wie ich an anderer Stelle diskutiert habe (1968, 1974), zwingen uns diese Fakten, die gestaltpsychologische Erklärung der visuellen Wahrnehmung (und insbesondere der Bildwahrnehmung) zu verwerfen. Es bleiben uns somit zwei brauchbare Alternativen. Wir können uns entweder auf eine auf mathematische Abstraktion basierte Erklärung beschränken (diese Position nimmt meines Erachtens Gibson ein), oder aber wir nehmen eine erworbene mentale Struktur an - schematische Karten (Hochberg, 1968) oder hypothetische Gegenstände (Gregory, 1970) -, die verschiedene wichtige Wahrnehmungsfunktionen erfüllt. Solche Strukturen müßten die jeweils nächsten Blicke motivieren, indem sie Fragen für die visuelle Erkundung stellen (Ist das ein Auto oder eine Katze?), und somit die Suchstrategie, mit Hilfe derer die Fragen beantwortet werden, leiten (Wenn das ein Auto ist, muß ich da drüben nachschauen, ob es einen Scheinwerfer hat). Sie würden die Kriterien für das Ende der Suche liefern (Es hat eine Radkappe und einen Scheinwerfer. Also ist es ein Auto und keine Katze, ich muß gar nicht erst weiter suchen.) und die Suchergebnisse speichern (Es war ein Auto.).
Für einen solchen theoretischen Ansatz -- der eigentlich eine Entwicklung aus der Helmholtz - Brunswik (1954) - Hebb (1949) - Linie ist, und den im wesentlichen auch Neisser (1967, 1976) vertritt -- müssen die Beschaffenheit der mentalen Struktur, mit der wir unsere Blickfolge integrieren, sowie die Bedingungen für die Motivation der perzeptiven Erkundung, die die Blickfolge steuert, Fragen höchster Priorität sein. Und auf der Suche nach den Antworten wird man immer wieder auf die Erforschung der Kunst stoßen.
Als erstes wenden wir uns der Beschaffenheit der mentalen Struktur zu. Die widersprüchlichen Bilder Eschers, Albers_ und Penroses - die nach Pirennes Beobachtungen zur Perspektivverletzung vielleicht eher die Regel als eine Ausnahme sind - machen deutlich, daß wir keine Gegenstände in unserem Wahrnehmungsspeicher aufbewahren. Welche Regelmäßigkeiten es in unserer Umwelt auch geben mag, sie werden von der Umwelt vorgeschrieben, nicht von unserem Nervensystem. Figur-Grund ist einfach ein Name für unsere Erwartungen bezüglich der Stelle, wo wir meinen, Objektkanten zu finden, wenn wir von einem Ort zum anderen schauen (Hochberg, 1962, 1974b). Umrisse funktionieren als Surrogate für Objektkanten, weil sie die Lichtrezeptormechanismen teilen, die von Leuchtdichteunterschieden abhängig sind, und weil die meisten Objektkanten und -ecken durch einen abrupten Leuchtdichtewechsel gekennzeichnet sind, der in der Netzhautperipherie noch erkennbar ist, während andere Informationen, die zwar stärker aber auch abhängiger von Einzelheiten sind, versagen. Dabei sind die Gestaltgesetze eigentlich nur Hinweisreize in der mentalen Struktur. Mit ihnen entscheiden wir, welche Seite einer Kante Teil der Figur ist, und welcher Teil des Gesichtsfelds sich als eine Einheit bewegen wird, wenn wir unseren Kopf oder unsere Augen bewegen.
18
Manche Hinweisreize an Gegenständen sind eindeutiger als andere (z.B. Schnittpunkte und Ecken (Guzman, 1968; Hochberg, 1968; vgl. Ratoosh, 1949))
19, und manche sind typischer für einen bestimmten Gegenstand als andere (Beispielsweise erscheinen ein Glas und eine Pyramide von oben gesehen als ein paar konzentrische Kreise bzw. als ein Quadrat mit sich kreuzenden Diagonalen, was sicher nicht die typischsten Merkmale, nach denen man diese Gegenstände identifizieren würde, sind (vgl. Gibson, 1969). Es ist verhältnismäßig unwahrscheinlich, daß in der zufälligen Kombination von Merkmalen in einer Fotografie oder irgendeinem anderen wiedergabegetreuen Surrogat die informativsten und charakteristischsten Formen auf solch ökonomische und einfache Weise dargestellt werden, wie sie ein Künstler für seine Darstellung wählen könnte.
Jetzt können wir verstehen, was sich für eine Integration in eine Surrogattheorie des Bildes zweifellos am widerspenstigsten darstellte - nämlich die Tatsache, daß Cartoons oder Karikaturen mit ihrem inhärenten Informations- und Wiedergabetreueverlust, die Welt oft besser darstellen und visuelle Beziehungen deutlicher klären als dies gegenständliche Bilder tun (Arnheim, 1969). Also waren Ryan & Schwarz (1956) in der Lage zu zeigen, daß bei der Vorlage der gleichen Gegenstände auf Fotos, schattierten Zeichnungen, Umrißzeichnungen und Cartoons, die von einem Künstler unter Beachtung obiger Prinzipien angefertigt wurden, Cartoons im Tachistoskopversuch
20 in einer kürzeren Zeit wahrgenommen wurden als naturgetreue Fotos. Wie kann es sein, daß sich die Erkennbarkeit erhöht, wenn die Wiedergabetreue verringert wird?
Ein guter Cartoon vereinigt, wie jedes andere gute Kunstwerk der darstellenden Kunst auch, diejenigen Eigenschaften des Gegenstandes, die am wenigsten mehrdeutig und am charakteristischsten sind, auch wenn sie in Wirklichkeit nicht alle zur gleichen Zeit sichtbar wären. Indem wir einen Gegenstand in seiner kanonischen Form präsentieren (Hochberg, 1972a) (d.h. in der Form, die die typischen Eigenschaften am besten zur Geltung bringt), bieten wir dem Betrachter einen Prototyp, der es ihm ermöglicht, ähnliche Objekte in Zukunft besser zu kodieren und zu speichern (vgl. Attneave, 1957). In diesem Sinne kann Kunst also dadurch, daß sie eindeutigere Schemata bringen kann, als wir sie uns aus direkter Erfahrung mit der Welt selbst bilden können, unsere Wahrnehmung beeinflussen (Gombrich, 1956) - wie schon das weitverbreitete Vertrauen in stilisierte Zeichnungen in Lehrbüchern und politische Cartoons in Parteizeitungen vermuten läßt.
Es wäre also sowohl aus theoretischen wie auch aus praktischen Gründen wünschenswert, die Prinzipien, die die Darstellung mit weniger Merkmalen effektiver machen, sowie ihre Folgen für die Kodier- und Speicherprozesse zu untersuchen, was angesichts der Pionierarbeit von Ryan und Schwarz und angesichts unseres Wissen über örtliche Tiefenreize nicht allzu schwierig sein sollte. Das Problem ist jedoch, daß die meisten Leute, die sich für Kunst oder sogar Cartoons und Karikaturen interessieren, sich wenig um deren darstellende Funktion kümmern. Diese Funktion ist in Lehrbüchern über die Wahrnehmung besonders hervorgehoben worden, da es einerseits vernünftige Kriterien für die Qualität, in der ein Bild räumliche Anordnungen vermittelt, gibt, und andererseits, da ein Einblick in die Mechanismen des Funktionierens darstellender Kunst uns wahrscheinlich hilft, sie einzuschätzen (insbesondere wenn es sonst so wenig Klares gibt, das der Neuling über Kunst herausfinden kann). Doch es gibt auch andere Funktionen, die in Betracht gezogen werden müssen. Karikaturen vermitteln mehr als nur die räumliche Anordnung, die sie darstellen. Und sowohl visuelle als auch nicht-visuelle Kunst tun im allgemeinen mehr als nur Gegenstände, Szenen und Menschen darzustellen. Im folgenden wollen wir die zwei wichtigsten nicht-darstellenden perzeptiven Funktionen untersuchen, die Kunst haben kann.



III. NICHT-DARSTELLENDE FUNKTIONEN KÜNSTLERISCHER PRÄSENTATIONEN: DIE EXPRESSIVE UND DIE ÄSTHETISCHE FUNKTION

Wenn der Künstler sich nicht mehr um die Grenzen projektiver Wiedergabetreue zu kümmern braucht, können andere Ziele neben der Darstellung verfolgt oder sogar die darstellende Funktion ganz vernachlässigt werden. Das Expressive und das Ästhetische werden oft als eine einzige Funktion betrachtet, doch so, wie ich sie hier behandele, sind sie separat und eigentlich auch nicht als zusammengehörig zu sehen. Expressiv bezieht sich auf Gefühle, Emotionen und Einstellungen sowie die Selbstdarstellung des Künstlers. Ästhetisch bezieht sich (ursprünglich) auf Schönheit und die Freude, Schönheit zu sehen, sowie auch auf all jene Faktoren (einschließlich derer, die sich von den anderen beiden Funktionen ableiten), die die unvoreingenommene bewertende Aufmerksamkeit des Publikums fesseln (unvoreingenommen in dem Sinn, daß keine von außen bewirkte oder exogene Motivation als die Quelle der bewertenden Aufmerksamkeit festzustellen ist Kruglanski, 1975)).

A. Ausdruck (Expression) und Gefühl

Der Karikaturist kann eine barsche Person mit breiten, zackigen Strichen zeichnen. Er kann seine Besorgnis über ein von ihm gewähltes Ereignis mit dünnen, zittrigen Strichen und einer unausgewogenen gespannten Komposition gestalten. Während das dargestellte Verhalten und der Gesichtsausdruck der porträtierten Personen ihre Gefühle ausdrücken, nutzt der Künstler das Mediums selbst für den Ausdruck der eigenen Gefühle. Wenn "Rembrandt den allmählichen Verfall seines Körpers unerschrocken darstellt [Zucker, 1963]", dann ist es nicht Rembrandt, das Motiv des Selbstporträts, sondern Rembrandt, der Maler, der diese unerschrockene Entschlossenheit ausdrückt (Sircello, 1965). Der Künstler kann den Ausdruck, der die Gefühle der porträtierten Person darstellt, vermitteln. Er kann aber auch das Medium benutzen, um seine eigenen Gefühle auf eine Art und Weise zu artikulieren, die das Publikum teilen kann. Und er kann drittens sich selbst als identifizierbares und einmaliges Individuum ausdrücken. Er kann mit einem persönlichen Stil arbeiten, der sowohl seine Identität begründet als auch konnotative Bedeutung trägt (z.B. die Grillenhaftigkeit oder Nachdenklichkeit des Künstlers oder aber ein nicht in Worten faßbarer Geschmack, eine bestimmte Energie oder Stimmung). Goya, Feiffer, Steinberg und Gropper (um mit dem Beispiel der Karikaturisten fortzufahren) benutzen alle das Medium nicht nur als Unterschrift (d.h. um sich selbst zu identifizieren), sondern auch als Indizes für ihre Einstellungen gegenüber den jeweiligen Motiven (und in gewissem Maße als Einschränkung ihrer Motive).
Wir haben viele Beweise dafür, daß Farbe und Komposition in den visuellen Künsten (Ball, 1965; Kepes, 1964; Poore, 1903; Taylor, 1964); melodische Struktur, Tonart und Rhythmus in der Musik (Gutheil, 1948; Meyer, 1956); Wörter und Laute in Lyrik und Prosa (Belknap, 1934; Pope, 1711; Wilson, 1931) und Bewegungen im Tanz (Davis, 1972; Kreitler & Kreitler, 1972; Martin, 1939; Sorell, 1966) spezielle expressive Bedeutung tragen. Es gibt auch umfangreiches, wenn auch verstreutes, experimentelles Beweismaterial zu dieser Frage. In diesen Experimenten ist vor allem gezeigt worden, daß Versuchspersonen, denen solche Elemente in isolierter Form gezeigt werden, in der Lage sind, expressive oder physiognomische (Werner, 1948) Urteile darüber abzugeben. Besprechungen früher Forschung dieser Art sind in Hammond (1933) und Chandler & Barnhart (1938) zu finden. Spätere Untersuchungen werden in Pickford (1972) diskutiert.
Für den Fall, daß dies alles zufällig und unlogisch klingen sollte, wollen wir ein Gebiet (von vielen) der angewandten Kunst betrachten, für das derlei Analysen von größter Bedeutung sind: die Werbung. In der Werbung (und der Propaganda) muß sehr genau darauf hingearbeitet werden, daß die Konnotationen von Wörtern, visuellen Elementen, Layout, Hintergrundmusik usw. zweckmäßig zusammenhängen und zum Bild beitragen, das sich das Publikum von dem jeweiligen Produkt oder der Person macht, und daß die entsprechende Forschung (und noch mehr die Untersuchungen, die, wie man annimmt, im Unternehmen selbst durchgeführt werden und als Firmengeheimnis gehütet werden) gewissenhaft beurteilt wird (und sei es nahezu ohne jede wissenschaftliche Fundierung). Wenn es heute um die Psychologie expressiver Kunst etwas ruhiger geworden ist, kann es nicht daran liegen, daß sie wirtschaftlich nicht rentabel sein könnte.
Was fehlt, ist eine gut entwickelte übergreifende psychologische Theorie, die eine grundlegende Ordnung in diese Forschungsrichtung einführt. Es ist aber auch nicht der Fall, daß keine allgemeinen Erklärungen angeboten worden wären. Wenigstens drei theoretische Richtungen sind verschiedentlich wiederzufinden. Der empiristische Ansatz (z.B. in Bezug auf die physikalischen Eigenschaften, die die einzelnen Bestandteile gemeinsam haben, in Bezug auf die melodischen Aspekte von Sprache, die mit verschiedenen Botschaftsformen in Verbindung gebracht werden, sowie auf die Abstraktion einer Form oder Kategorie für den Umgang mit Erfahrung) ist von einer ganzen Reihe von Theorien vertreten worden, wie zum Beispiel die Osgoods (1976) oder Langers (1958). Der Einfühlungstheorie (wie in Lipps Versuch von 1900, Ästhetik wie auch geometrische Täuschungen (1897) vor dem Hintergrund der emotionalen oder reaktiven Reaktion des Betrachters auf verhältnismäßig simple Stimuli zu erklären) folgen mehr oder weniger direkt Gombrich (1972a) mit seiner Hypothese über Porträtwahrnehmung, Schillinger zur Musik (1948) und (über die Gleichsetzung mit sogenannten modal-vektoriellen Körperfunktionen) Gardner (1973). Zum dritten könnten Wörter, Formen, Farben und Gefühle die gleiche isomorphe
21 innere Reaktion hervorrufen - ein Standpunkt, der von den Gestaltpsychologen (vgl. Koffka, 1935), von Arnheim (1954) und auf eine komplexe Art von Smets (1973) vertreten wird. Smets behauptet, daß ein ästhetischer Stimulus genau diejenigen emotionalen und synästhetischen22 Konnotationen hervorruft, die auch denselben Erregungsgrad produzieren (Erregung wird hier über die Desynchronisation von Alphawellenaktivität gemessen). Sie hat solche Äquivalenzen mit Farben, Formen und konnotativen [sprachlichen] Beschreibungen gezeigt.23
Diese drei Erklärungsansätze sind natürlich nicht als ausschließlich zu betrachten. Sie scheinen mir auch nicht das zu sein, was wir theoretisch in dieser Hinsicht brauchen. Wir wissen weder ob noch wie die Wirkungen eines Kunstwerks über die Wirkungen seiner Teile erklärt werden können. Genau an diesem Problem ist ja der Strukturalismus gescheitert (Hochberg, 1972a). Ein Kunstwerk wird didaktisch zwar oft über die Wirkungen, die seine Bestandteile hervorrufen, analysiert, aber mir ist keine Theorie bekannt, die die Kombinationsregeln, ohne die eine Untersuchung der einzelnen Bestandteile weder theoretisch noch praktisch möglich ist, liefert.
In dem Beispiel, mit dem wir unsere Diskussion künstlerischen Ausdrucks begannen, vermittelten die expressiven Merkmale eines Mediums etwas über einen dargestellten Gegenstand oder eine dargestellte Szene, doch das ist offensichtlich nicht nötig. Wenn die Elemente des Mediums selbst expressiv sind, dann kann die künstlerische Präsentation ausdrucksvoll sein, ohne überhaupt etwas darzustellen, wie das in der Musik der Fall ist. Darum sagen wir, daß Musik heiter ist, nicht daß sie über ein heiteres Ereignis ist (vgl. Beardsley, 1958, 1965; Zinc, 1960).
Es ist soweit also klar, daß man derartige Aussagen über künstlerische Präsentationen durchaus machen kann (insbesondere über solche, die - wie Musik und Tanz - ganz normaler Ausdruck für solche Gefühle sind). Viel weniger Untersuchungen haben sich für diesen Punkt interessiert als für das Studium der Einzelbestandteile, das wir oben diskutiert haben. Wir wissen, daß Versuchspersonen vom emotionalen Eindruck, den abstrakte Bilder hinterlassen, sprechen (Hussain, 1968), und daß auf musikalische Darbietungen ziemlich verläßlich mit verschiedenen Stimmungen reagiert wird (Berger, 1970). Pickford (1972) und Child (1972) haben dazu generelle Überblicke gegeben. Berlyne & Ogilvie (1974) haben faktorenanalytische Untersuchungen der Reaktionen von Versuchspersonen für jegliche Art von Kunstwerken durchgeführt. Alle diese Arbeiten hängen jedoch mehr oder weniger von einer analytischen Reaktion der Versuchsperson ab, und es ist durchaus legitim zu fragen, ob Worte und Bewertungsskalen adäquat die Wirkung einer künstlerischen Präsentation gerade auf naive Versuchspersonen wiedergeben können (vgl. Gardner, 1973). Aus diesem Grunde halte ich Methoden für vielversprechender, die den Versuchspersonen greifbarere Aufgaben stellen, welche schon vom Versuchsdesign her von einer verläßlichen Empfindlichkeit gegenüber nicht-darstellenden Eigenschaften der Kunst abhängen. Zum Beispiel kann eine Versuchsperson abstrakten Gemälden zuverlässig Titel (nicht unbedingt dieselben, die vom Künstler gegeben wurden) zuordnen, Oben und Unten eines Bildes bestimmen (Lindauer, 1970), und Gemälden von Klee, die Musik zuordnen, die sie wahrscheinlich angeregt hat (Minnigerode, Cianco & Sbarboro, 1976; Peretti, 1972; Wehner, 1966).
Ähnliche Meßmethoden können auf den jeweiligen Stil von Künstlern angewendet werden, der ebenfalls nicht-darstellend ist und expressiv in beiden Bedeutungen des Wortes sein kann. Wie bei einem einzelnen Kunstwerk scheint es prinzipiell möglich zu sein, die Gemeinsamkeiten einer ganzen Gruppe von Arbeiten hinsichtlich physikalischer Variablen wie Form, Farbe, Bewegung usw., die ihre gemeinsamen Eigenschaften bilden, zu beschreiben. Ein echtes Kunstwerk (im Gegensatz zu Laborstimuli) ist allerdings so komplex, daß selbst erfahrene Kunsthistoriker die Beispiele direkt miteinander oder mit einem anderen Standardwerk vergleichen müssen (Schapiro, 1961). Es ist also keinesfalls zu erwarten, daß die verbale Beschreibung oder Bewertung eines Kunstwerks durch eine naive Versuchsperson besonders informativ sein kann. Die Methode des Vergleichs einer Arbeit mit einer anderen kann dennoch leicht für die Wahrnehmungsforschung angepaßt werden. Ein ähnliches Verfahren ist beispielsweise für die Messung ästhetischer Empfindlichkeit, nämlich die Fähigkeit zu entscheiden, ob Kunstwerke vom selben Künstler stammen oder nicht, angewendet worden (in der Literatur durch Westland (1968), in der Musik durch Gardner (1972) und in der Malerei durch Smets & Knops (1976)). Diese Methode erscheint mir besonders vorteilhaft, da einige Probleme, die sich bei den Standardtests ästhetischer Bewertung unweigerlich stellen, umgangen werden können (Child, 1964). Da Smets & Knops bei der Unterscheidung der Bildmotive Reliabilitäten von 0,91 erhielten, muß sich die Methode auch als Forschungsinstrument für die Einordnung von Künstlern und Epochen eignen.
Warum sollen wir uns mit künstlerischen Stilen befassen? Sie könnten der bedeutendste Aspekt der expressiven Funktion der Kunst sein. Der Stil, oder erkennbare individuelle Unterschiede bei der künstlerischen Produktion (was meist mit “seine Persönlichkeit ausdrücken" gemeint ist), ist seit der Renaissance ein immer wichtigeres Element auf dem Kunstmarkt und daher der künstlerischen Entwicklung (vgl. Grosser, 1971). Der Stil könnte in der Tat expressiv sein, als daß er Unterschiede in Stimmung, Gefühl oder Einstellung umfaßt. Oder aber er bezieht sich bloß auf Unterschiede in der Art und Weise, wie Probleme der Komposition und des ästhetischen Werts gelöst werden. Auf jeden Fall hat aber der Künstler der freien Künste, der keinen unverwechselbaren und unvergeßlichen Stil erkennen läßt, keine Chance auf eine ordentliche Karriere. Dasselbe gilt für die meisten angewandten Künstler (z.B. Kartoonisten, Sänger, Modedesigner).
Für einige ist die expressive Funktion der Kunst das Wichtigste.
24 Wir müssen jedoch beachten, daß - genauso wie es möglich ist, viele Beispiele anerkannter Kunst zu finden, die keinen oder nur wenig darstellenden Inhalt haben, und die nicht hinsichtlich der Qualität des Abbildes bewertet werden können - es auch viele Kunstwerke gibt, die sozusagen ausdruckslos sind. Das traditionelle Versuchsobjekt der experimentellen Ästhetik kann darauf wohl am ehesten angewendet werden. Dieses Gebiet werden wir als nächstes betrachten.

B. Kunst als etwas Angenehmes oder Interessantes: Experimentelle Ästhetik und Präferenz

Die experimentelle Ästhetik wurde im Jahre 1876 von Fechner begründet (Fechner war natürlich auch der Gründer der Psychophysik). Woodworth (1938) hat eine bewundernswerte Diskussion des damaligen Forschungsstandes gegeben, und frühe Bibliographien wurden von Hammond (1933) und von Chandler & Barnhart (1938) veröffentlicht. Kritiken oder Sammlungen von Aufsätzen findet man in Berlyne (1971, 1972a,b, 1973, 1974), Child (1972; in diesem Band) und Pickford (1972). Im folgenden werde ich einige Argumente, die von Woodworth gebracht werden, besprechen und dann ein paar eigene hinzufügen, um den Forschungsstand zu betrachten und zu diskutieren, warum Wahrnehmungspsychologen, die sich dem schema-testenden oder konstruktivistischen Ansatz anschließen, sich mit der experimentellen Ästhetik befassen sollten. Ein Großteil dieser Einleitung soll eigentlich sagen, daß der überwiegende Teil der Forschung in Wirklichkeit nichts mit der Wahrnehmung von Schönheit oder der Erregung ästhetischer Emotionen zu tun hat, und daß Präferenzurteilen mit einer simplen Interpretation nicht Genüge getan wird. Genau aus diesem Grunde aber glaube ich, daß die Untersuchungen, die auf diesem Gebiet durchgeführt wurden, auf die Einschätzung von Kunst (insbesondere der freien Künste) anwendbar sind, und, obwohl die Kritik, die in dieser Beziehung geäußert wurde, wahrscheinlich zutrifft, bleibt dieses Forschungsgebiet sowohl für die Kunst als auch für die Psychologie bedeutsam.
Woodworth wies darauf hin, daß in der experimentellen Ästhetik die Reaktion auf das Schöne, das Erhabene, das Tragische, das Komische oder das Erbärmliche untersucht wird. Die Reaktion sollte von den Gefühlen und nicht von einer intellektuellen Wahrnehmung und Beurteilung abhängen. Doch im Labor versteht die Versuchsperson die Frage nicht als “wieviel Gefühl wird in Ihnen geweckt?”, sondern eher als “ist dieses Objekt angenehm oder unangenehm?”, so daß die Ergebnisse wohl mehr als Urteile zu bewerten sind denn als Gefühle. Die meisten Methoden, die in Experimenten zu diesem Thema angewendet werden, bitten die Versuchsperson an der einen oder anderen Stelle, Ranglisten aufzustellen oder eine Wahl zu treffen bezüglich dessen, was sie bevorzugt [“Präferenzurteile”]. Woodworth hat dazu festgestellt, daß die Tatsache, daß fast jeder in der Lage war, das angenehmste Rechteck auszuwählen, als Fechner solche Urteile bei der Überprüfung von Behauptungen über den “Goldenen Schnitt” (dem wir uns gleich zuwenden werden) verlangte, an sich schon ein bedeutendes psychologisches Ergebnis ist: “Man könnte annehmen, daß ein bloßes Rechteck keinerlei ästhetische Wirkung haben kann” (Woodworth, 1938, S. 385).
Diesem Kommentar möchte ich folgendes hinzufügen. Seit Jahrzehnten wissen wir, daß wir das innere Funktionieren unseres Denkens nicht mit Introspektion erkennen können. Helmholtz hat uns gelehrt, daß wir unsere Urteile fällen, indem wir der Information, die wir erhalten, die wahrscheinlichste Erklärung zuordnen. Die James-Langesche Theorie des Gefühls
25 und die Attributionstheorie26 der Sozialpsychologie haben beide die Anwendbarkeit dieses Diktums auf unsere Urteile über Gefühle und Einstellungen unterstrichen (vgl. Bem, 1967; Nisbett & Wilson, 1977; Schachter & Singer, 1962). Die Versuchsperson muß herausfinden, was sie bevorzugt, indem sie ihre anderen beobachtbaren Reaktionen und ihr Wissen über das Gezeigte prüft. Das soll heißen, daß Präferenzen keine direkt beobachtbaren Einheiten sind (vgl. Valins, 1966), und daß, selbst wenn die Versuchsperson Zugang zu ihren Präferenzen hätte, wir wissen, daß sie eher das tut, was die Situation erfordert als das, was sie tun soll (Orne, 1962). Man könnte denken, daß der letzte Punkt außer acht gelassen werden könnte, da die Stimuli, die in der experimentellen Ästhetik meist benutzt werden, einfache Rechtecke, zufällige Vielecke oder andere ziemlich zufällige Muster sind. Ich glaube aber nicht, daß das der Fall ist. Die Aufgabe, das ästhetisch Präferierte zu bestimmen, ist nicht neutral. Sie verlangt von der Versuchsperson eine Bloßlegung ihres Geschmacks und ihrer Empfindsamkeit. Die Person macht sich selbst verletzbar im Hinblick auf eine Art von Präferenzen, die äußerst starke soziale und Klassenkonnotationen haben. (Präferenztests werden übrigens auch als Persönlichkeitstests benutzt, vgl. Barron & Welsh, 1952.) Auch wenn die vorgelegten Muster unsinnig sein mögen, so sind es doch nicht nur die Reize allein, die die Versuchsperson beurteilt. Erstens kann sie auf die gesamte Gruppe von Reizen schließen, so daß sie weiß, nach welchen Modellen die Reize erzeugt wurden. Dies wiederum beeinflußt die Bewertung ihrer Qualität (Garner, 1966; Garner & Clement, 1963), was zweifellos mit dem Wissen über die kulturellen Standards interagiert. Zweitens weiß die Versuchsperson, daß die benutzten Stimuli im großen und ganzen solch zufällige Formen aufweisen, daß keine vernünftige Person außerhalb des Experiments einen Blick an sie verschwenden würde, und daß sie sicher weder Erregung noch Präferenz wert sind. Doch Erregung und Präferenz gibt es. Sie müssen, wie mir scheint, von der Herausforderung herrühren, die Prinzipien, die die Wahl leiten sollten, zu begreifen. Wir werden nach einem Überblick über das Forschungsgebiet zu diesem Punkt zurückkehren.
Es wurde Kritik an der Schmalspurigkeit der Forschung geübt, und es wurden Vorschläge gemacht, das Labor zu verlassen. Es gab auch einige Schritte in die entsprechende Richtung (vgl. Lindauer, 1970, 1973; Wallach, 1959). Außerdem haben, wie oben angeführt, Berlyne (1974) und Pickford (1972) Faktorenanalysen von Ähnlichkeitsentscheidungen oder Bewertungsskalen für verschiedene Bildauswahlen diskutiert. Die überwiegende Mehrheit der Untersuchungen bleibt jedoch bei Farbpräferenzen (zusammengefaßt in Pickford, 1972) und dem Einfluß der Komplexität visueller und auditiver Nonsensmuster auf das Interesse der Versuchsperson an ihnen und auf Entscheidungen darüber, was bevorzugt und was als angenehm empfunden wird. (Ein Großteil der Arbeiten mit Erwachsenen ist in Berlyne (1974), einige Arbeiten mit Kindern in Gardner (1971, 1973) und Pickford (1972) zusammengefaßt; Cohen (1976) und Oson (1976) geben einen Überblick über Untersuchungen zur unterschiedlichen Gewöhnung von Kindern beim Betrachten verschiedener Arten von Stimuli.) Mit Ausnahme der Studie von Smets, die ich weiter oben erwähnt habe, scheinen mir die Untersuchungen zur Farbe heute nicht von theoretischem Interesse zu sein. Die Arbeiten zur Wirkung der Komplexität dahingegen sind es meiner Meinung nach durchaus.
Die vielleicht berühmtesten Regeln für Schönheit in der visuellen Kunst sind die folgenden. Erstens der “Goldene Schnitt” (die angenehmste Proportion), von dem seit der Antike behauptet wird, daß er so beschaffen sein muß, daß das Ganze sich zum größeren Teil so verhält wie der größere Teil zum kleineren: 1/x = x/1 - x, oder x = 0,618 (d.h. in einem Rechteck müßte die eine Seite 0,618 mal so lang sein wie die andere). Zweitens Hogarths Linie der Schönheit (eine Spirale, die sich um einen Kegel windet, oder eine S-Kurve), die in unzähligen Gemälden, Skulpturen, Ornamenten und Töpferarbeiten als Hauptlinie benutzt wurde, und drittens Polyklets Doryphoros, eine Statue, die den Standard für die frühe griechische Bildhauerei darstellte. Die erste dieser Regeln ist am häufigsten untersucht worden (Zusammenfassungen in Woodworth (1938) und Valentine (1962)). Im großen und ganzen erhalten Rechtecke dieser Proportion bei Präferenzentscheidungen den Zuschlag. Warum?
Witmer (1894) schrieb den bevorzugten Status des “Goldenen Schnittes” der angenehmen Einheit der verschiedenen Teile zu. Weber (1931) schlug vor (übrigens im Journal of Applied Psychology, in dem eine ganze Reihe derartiger Arbeiten veröffentlicht wurde), daß jede Figur ihrem Betrachter die Aufgabe gibt, sie als Einheit zu sehen. Wenn das zu einfach ist, verliert der Betrachter das Interesse, wohingegen eine zu hohe Schwierigkeit die ästhetische Wirkung zerstört.
Diese Formulierungen spiegeln die uralte Überzeugung wider, daß Schönheit, oder das Angenehme, eine Funktion der Komplexität ist. Aber wie können wir die Objekte messen, damit wir voraussagen können, wie die Präferenzurteile der Versuchspersonen ausfallen werden, was also das “objektiv Angenehme” der Reize ist? Birkhoff (1933) argumentierte, daß innerhalb einer Klasse von Objekten der ästhetische Wert M = O/C. Dabei ist O ein Maß für Ordnung und C ein Maß für die Komplexität. Die Durchschnittswerte der Präferenzen für von ihm konstruierte Vielecke ergaben dieselbe Ordnung wie sein Maß für M. Es gibt einige fehlgeschlagene Versuche, dieses Modell zu bestätigen (Davis, 1936; Eysenck, 1968; Eysenck & Castle, 1970). Und andere quantitative Modelle sind vorgeschlagen worden. Rashevsky (1940) hat seinem Nervennetzmodell für die Entdeckung von Linien und Winkeln ein “Lustzentrum” hinzugefügt und damit eine gute Paßform für Davis_ Daten geliefert. 1948 wurde von Schillinger ein bemerkenswerter Versuch unternommen, entsprechend seiner eigenen mathematischen Prinzipien die technische Grundlage für die mechanische Erzeugung von Musik zu legen. Allerdings weiß ich nicht, mit welchem Erfolg das Unterfangen gekrönt war. Informationstheoretische Abwandlungen der Formel von Birkhoff (Gunzenhäuser, 1968) liefern die Voraussetzung für M = R/H, mit H = statistische Information in der konventionellen Bedeutung, aber R = subjektive Redundanz, die mit Bildung und Motivation schwanken müßte (vgl. Moles, 1958; Smets, 1973, hat in ihren Untersuchungen subjektive Redundanz mit einer Variante von Attneaves Ratetechniken aus dem Jahre 1954 gemessen). Eysenck hat eine umgekehrte U-Funktion vorgeschlagen, die Präferenz und Komplexität verbindet (Eysenck, 1968; Eysenck & Castle, 1970). Dasselbe tut Berlyne (1967) mit der Begründung, daß die Erregung (der Aktivierung des kortikalen Belohnungssystems
27) sich linear mit der Komplexität erhöht, wohingegen das objektiv Angenehme bei einem mittleren Erregungsgrad am größten ist (Hebb, 1955; Lindsey, 1957).
Nach Berlynes Vorschlag hängt die Erregungsleistung einer Reizanordnung von einer Reihe Faktoren ab, wie zum Beispiel von der Intensität der Anordnung, ihrer Verbindung mit bedeutsamen Ereignissen und ihrer vergleichbaren (kollativen) Eigenschaften. Letztere sind formale Kennzeichen wie zum Beispiel die Variation der Anordnung in Bezug auf solche Aspekte wie bekannt-neu, einfach-komplex, erwartet-überraschend usw. Da die Erregung (unter anderem) vermutlich mit zunehmender Komplexität steigt, und das objektiv Angenehme bei mittlerer Erregung am größten ist, müßte die Funktion des objektiv Angenehmen gemessen an der Komplexität eine umgekehrte U-Kurve ergeben. Andererseits müßten Urteile über Interesse versus Desinteresse sowie über Komplexität versus Einfachheit mit zunehmender Komplexität des Stimulus (häufig mit Informations- oder Unsicherheitskriterien gemessen) steigen.
In vielen Untersuchungen wurde die erwartete Beziehung zwischen dem objektiv Angenehmen und der Komplexität tatsächlich gefunden (Bragg & Crozier, 1974; Crozier, 1974; Dorfman & McKenna, 1966; Normore, 1974; Vitz, 1966; Walker, 1970; Wohlwill, 1968). In anderen aber wurde eine monoton steigende Kurve für die Funktion aus Präferenzurteilen und Komplexität gefunden (Hare, 1974a; Jones, 1964; Reich & Moody, 1970; Vitz, 1964). Es gibt sogar Fälle, in denen die Präferenz mit steigender Komplexität sinkt. Reich & Moody (1970) erzielten diese Ergebnisse, die ja Birkhoffs These entsprechen, als sie ihren Versuchspersonen Stimuli vorlegten, an die diese bereits gewöhnt waren. Smets (1973) setzt dem freilich entgegen (in ihre Experimenten benutzte sie Matrixanordnungen, die aus zwei Elementen bestanden, die in ihrer Redundanz und der Anzahl der Bestandteile variierten, vgl. auch Snodgrass, 1971), daß man bei einer nicht-monotonen Kurve unterschiedliche Abschnitte der Kurve erhält, je nach dem, welchen Bereich man gerade untersucht. Die tatsächliche Ordnung, Struktur oder Redundanz, die eine Versuchsperson ausmachen kann, hängt davon ab, wie vertraut die Person mit der Reizvorlage ist (vgl. Goldstein, 1961; Harrison & Zajonc, 1970) und vielleicht auch davon, welche künstlerische Ausbildung sie genossen hat (Smets, 1973; Hare, 1974b). Ob dies darauf zurückzuführen ist, daß ein größeres “Vokabular” zur Verfügung steht, oder eine größere Bereitschaft, die Wahrnehmung für die Entdeckung von Strukturen zu bemühen oder ob drittens eine Vorliebe für größere Komplexität vorhanden ist - wie dem auch sei, wir können auf jeden Fall annehmen, daß, selbst wenn das objektiv Angenehme eine Funktion der Komplexität ist, die genau eine Spitze hat, immer Variation zwischen den einzelnen Experimenten auftreten wird. Jedoch scheinen wir mit einiger Sicherheit schlußfolgern zu können, daß die Urteile über Präferenz und Angenehmes in solchen Experimenten eine Funktion der Komplexität sind, und daß die Kurve nicht monoton verläuft.
Es gibt aber auch alternative Modelle, die diese Fakten erklären könnten, wie zum Beispiel das von McClelland et al. (1953). Es besagt, daß ein Reiz im Adaptationsbereich (Helson, 1964), an den wir gewöhnt sind, weder angenehm noch unangenehm ist. Wenn der Reiz vom Adaptationsbereich abweicht, bereitet er zunächst höchstes Vergnügen, um dann unangenehm und gräßlich zu werden. Eine Anwendung auf die Reizkomplexität liegt einigermaßen auf der Hand (Terwilliger, 1963). Man würde nicht erwarten, daß die “Schmetterlingskurve” dieses Modells tatsächlich auftritt, wäre da nicht die Tatsache, daß das Reizspektrum, das in einem bestimmten Experiment benutzt wird, auch den Punkt überspannt, an dem die Versuchsperson aufgrund ihrer Erfahrung inner- oder außerhalb des Experiments gleichgültig reagiert (Day, 1967; Haber, 1958; Munsinger & Kessen, 1964). Der Kreis von Unpopularität, Popularität und Neutralität, den Popsongs und andere Moden durchlaufen, gibt dem Ganzen auch eine gewisse praktische Plausibilität (vgl. auch Wohlwill, 1966). Man würde in der Tat erwarten, daß kleine Abweichungen von bekannten und wohlgeformten Schemata für die Anregung und das Aufrechterhalten der perzeptiven Erkundung wichtig sind. Dabei ist interessant, daß sowohl der Goldene Schnitt (Fischer, 1969; Lalo, 1908) als auch Polyklets Kanon (Ruesch, 1977) eher Ausdruck kultureller als mathematischer Normen sein könnten. (Ruesch liefert überzeugende Argumente dafür, daß Polyklets Kanon eine Verkörperung der zentralen Tendenzen konkreter früher anthropometrischer
28 Messungen ist, von denen spätere Bildhauer dann abwichen, um spezielle Wirkungen zu erzielen.)
Es ist also durchaus möglich, eine Parallele zwischen der experimentellen Forschung und wenigstens einigen Eigenschaften der weniger simplistischen wirklichen Welt der Künste zu ziehen. Was jedoch den Darstellungen beider meiner Meinung nach fehlt, ist der Aspekt der Motivation. In den Aufgaben der experimentellen Ästhetik erklärt die Versuchsperson sich damit einverstanden zu versuchen, den relativen Wert der Teile einer Reizvorlage zu erfassen. Dieser Versuch und die Herausforderung, den eigenen künstlerischen Sachverstand zu zeigen, sind für die Versuchsperson von Belang, und nicht die Darlegung der inhärenten Schönheit des Stimulus oder des Interesses daran (wie Normores Versuchspersonen in einem Experiment spontan fragten: “Wie kann denn ein Punkt schön sein?”, 1974, S. 119). Man beachte, daß bei einer Erhöhung aller (kollativen) Vergleichsvariablen eine Erhöhung der Zeit und Anstrengung, die für die Erfassung der Reizvorlage erforderlich sind (vorausgesetzt, es gibt etwas zu erfassen), eintreten müßte. Aus diesem Grunde müßten sich auch die Seh- und Hörzeiten mit zunehmender Komplexität der Reizvorlage verlängern. Dies ist tatsächlich der Fall (Berlyne, 1974; Crozier, 1974; Faw & Nunnally, 1967; Hochberg & Brooks, im Druck). Außerdem werden Reizvorlagen bei steigender Komplexität auch als interessanter eingestuft (Überblick in Berlyne, 1974). Letzteres ergibt übrigens eine monoton steigende Kurve, was meiner Meinung nach auf die stetige Suche der Versuchsperson nach einer Ordnung oder einem Prinzip, die das Vorkommen und die Position der meisten (oder zumindest einiger) Elemente erklärt, zurückzuführen sein könnte.
Doch wo bleibt die Qualität des objektiv Angenehmen bei diesen Schematests? Webers Erklärung reicht hier allemal (S. 248): Wenn eine Reizvorlage so einfach ist, daß es kein Prinzip gibt, das man aufstellen oder testen könnte, oder aber wenn sie so komplex ist (in Anbetracht der Vorgeschichte und der Motivation der jeweiligen Versuchsperson), daß die Versuchsperson kein Schema finden kann, in das die Reizvorlage mit einiger Effektivität als zutreffend eingeordnet werden könnte, dann ist das unbefriedigend, da die Bemühungen mit keinem Erfolg in der Wahrnehmung belohnt wurden. Man beachte, daß damit das Erfassen und Testen eines Schemas und nicht die Komplexität oder Erregung an sich zur Grundlage des objektiv Angenehmen werden, und daß für die Lösung der Aufgabe ein Motiv benötigt wird: Das objektiv Angenehme ist dem Reiz nicht inhärent.
Der Schemaüberprüfungsansatz muß sehr vieles herauslassen
29, doch er enthält auch vieles, daß meiner Ansicht nach dem wahren Funktionieren der ästhetischen Funktion der Kunst sehr nahe kommt. In vielen Kunstrichtungen gilt Einfachheit als Raffinement (z.B. in der minimalistischen Kunst). Bevor das Publikum eine ästhetische Ordnung wahrnehmen kann, ist sehr viel Wissen über die Hintergründe und Ziele des Künstlers wie auch über die in Worten nicht faßbaren Konzepte, die durch die Tradition, gegen die der Künstler sein Werk abhebt, vonnöten. Ohne dieses Wissen oder ohne die Absicht, die einzelnen Teile einander und dem Schema zuzuordnen, das durch die Tradition, in der das Werk liegt (und auf die es sich zwangsläufig bezieht), vorgegeben wird, kann der Betrachter nichts erreichen. Wenn er nichts über Kunst weiß, kann er auch nicht wissen, was ihm gefällt.
Für den Psychologen, der den Wahrnehmungsprozeß als eine zielgerichtete Handlung betrachtet, mit der Teile der Welt, die über die perzeptive Erkundung herangeholt werden, bestimmten Schemata zugeordnet werden, kann das Wesen der Kunst (und insbesondere jene Eigenschaften, die die perzeptive Erkundung anregen und aufrechterhalten) nicht lediglich ein neues Forschungsgebiet mit einer interessanten kulturellen und humanistischen Färbung sein. Hier stellen sich die meisten Probleme, mit denen er sich letztendlich in einer expliziten und überprüfbaren Form befassen muß, auf eine sehr unmittelbare Art und Weise.

1 Die Vorbereitung zu diesem Kapitel wurde im Zusammenhang mit NIH-5ROI-HD-06786 durchgeführt.

2 (Anm. der Übersetzer:dyadisch : aus zwei Einheiten bestehend.)

3 (Anm. der Übersetzer: Veblen: amerikanischer Nationalökonom und Soziologe (1857-1929), schuf eine kulturgeschichtliche Entwicklungstheorie, die besonders durch ihre sozialkritische Analyse der Oberklasse (zur Schau gestellter Müßiggang, Geltungskonsum) Verbreitung fand.)

4 Sicher kann eine Unterscheidung gemacht werden, auch wenn sie sich vielleicht nur in der Beständigkeit der jeweiligen Kanons widerspiegelt. Wenn ein Teenager sich mit der Beurteilung verschiedener Countryrockmusiker beschäftigt, stützt sich dieser Prozeß, eine Kultur kennenzulernen und eine Kunstform zu schätzen, wohl auf all jene Mechanismen, die Teil einer klassischen kulturellen Bildung sind. Doch mit der Beständigkeit ihres Kanons bietet diese klassische Bildung eine Kontinuität, die sowohl für die Gesellschaft von Wert ist (vgl. den Eifer, mit dem neue Regimes gewöhnlich versuchen, die traditionelle Kultur loszuwerden) als auch für die Fähigkeit des Individuums, Freude an bestimmten Dingen zu empfinden.

5 (Anm. der Übersetzer:Trompe-l_oeil: (frz.) Täuschung des Auges; seit der Antike besondere Art des Stillebens, in der die Gegenstände mit Hilfe perspektivischer Mittel so gemalt sind, daß sie dem Auge als Wirklichkeit erscheinen.)

6 (Anm. der Übersetzer:Moiré: störendes Muster bei Halbtonbildern im Buch- oder Offsetdruck, hervorgerufen durch falsche Rasterwinklung.)

7 (Anm. der Übersetzer:Kurz zum Auge (vgl. Kebeck, Günther: Wahrnehmung, S. 27ff.): Stäbchen [Dämmerungssehen, schwarz/weiß] und Zapfen [Sehen am Tage, Farben] sind auf der Netzhaut ungleich verteilt. An der Stelle, die der Pupille auf der optischen Achse des Auges genau gegenüberliegt, befinden sich ausschließlich Zapfen, die hier dicht beieinander liegen. Dieser Punkt, der als “Fovea centralis” (oder einfach Fovea) bezeichnet wird, besitzt die größte Sehschärfe. Beim Ansehen oder “Fokussieren” eines Gegenstandes wird das Auge grundsätzlich und automatisch so orientiert, daß die von ihm ausgehenden Lichtstrahlen in den Bereich der Fovea fallen. Außerhalb der Fovea finden sich nur noch vereinzelt Zapfen, dafür ist der angrenzende Netzhautbereich [parafoveal] dicht mit Stäbchen besetzt, deren Anzahl mit zunehmender Entfernung von der Fovea immer weiter abnimmt.)

8 (Anm. der Übersetzer:rezeptives Feld: Gruppe von in spezifischer Weise angeordneten Rezeptorzellen, die auf eine einzelne Nervenzelle zusammengeschaltet sind (Kebeck, S. 31)).

9 (Anm. der Übersetzer:Bishop Berkeley (1685-1753): irischer Philosoph und Theologe, vertrat idealistisch-spiritualistischen Sensualismus, der eine unabhängig von der Wahrnehmung bestehende Außenwelt leugnet; lehnte auch den Gedanken der Absolutheit von Zeit, Raum und Bewegung ab (im Gegensatz zu Newton).)

10 (Anm. der Übersetzer:Ökologie hier immer im Haeckelschen Sinne: “die gesamte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus' zur umgebenden Außenwelt”.)

11 (Anm. der Übersetzer:ökologische Wahrscheinlichkeit: Hochberg operiert hier mit zwei unterschiedlichen Bedeutungen für ökologische Wahrscheinlichkeit. In der ersten Bedeutung ist es eine Frage der Wahrnehmungsgewohnheiten eines Individuums (hat es sie oder nicht). In der zweiten Bedeutung geht es darum, daß sich das Gehirn evolutionär so entwickelt hat, wie es in der Reaktion auf die Umwelt am besten funktioniert.)

12 Obwohl so viele Bücher erschienen sind, die den Künstler in die Gestaltphilosophie und ihre Anwendung einführen, bleibt eine praktische Gebrauchsanweisung für die Anwendung bei der Verständlichkeit von Bildern nach wie vor möglich, wünschenswert und ungeschrieben. Die potentielle Wirkung des Grundes (der Raum zwischen den Formen) als Faktor in der Bildkomposition ist schon lange in der designtheoretischen Diskussion (vgl. Taylor, 1964) und sollte theoretisch in dieser Hinsicht quantifizierbar sein. Untersuchungen auf diesem Gebiet fehlen jedoch noch.

13 (Anm. der Übersetzer:proximaler Reiz: Reizkonstellation am Sinnesorgan, im Gegensatz dazu der distale Reiz: Reizkonstellation am Wahrnehmungsobjekt.)

14 (Anm. der Übersetzer:Texturdichte: gibt an, wieviele zählbar unterscheidbare Elemente pro Flächeneinheit vorkommen (z.B. Sand vs. Murmeln). Der Texturgradient ist eine Maßzahl, die die Veränderung der Textur angibt (vgl. Kebeck, S. 294).)

15 (Anm. der Übersetzer:Parallelepipedon: von drei Paaren paralleler, kongruenter Parallelogramme gebildeter geometrischer Körper.)

16 (Anm. der Übersetzer:Sakkade: die scharfe seitliche Bewegung des Auges von einem zum nächsten Fixierpunkt.)

17 (Anm. der Übersetzer:Redundanz: Eine redundante Information ist eine überflüssige Information, da sie das Gleiche beinhaltet wie andere vorhandene Informationen. Eine redundante Information bestätigt andere Informationen und kann damit eine größere Sicherheit oder Klarheit geben.)

18 Zum Beispiel ist das Gesetz der guten Fortsetzung ein Fall von Dazwischenlagerung (Interposition), in dem Sinne, daß es höchst unwahrscheinlich ist, daß zwei unterschiedliche Gegenstände in verschiedenen Abständen zum Betrachter genau im Toleranzbereich unserer ausgezeichneten Fähigkeit, unechte Linienformationen zu erkennen, als eine Linie wahrgenommen werden (Hochberg, 1972b). Das Gesetz der Nähe spiegelt im Grunde die Tatsache wider, daß Dinge, die nah beieinander sind, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch Teil eines Gegenstandes sein können (Brunswik & Kamiya, 1953).

19 Ein raffiniertes Experiment, wie übrigens auch ein raffinierter Wahrnehmer, kann natürlich immer irgendeine Anordnung überlappender Formen finden, die dieselben Linien auf verschiedene Art und Weise benutzen (Chapanis & McCleary, 1953; Dinnerstein & Wertheimer, 1957).

20 (Anm. der Übersetzer:Tachistoskop: Gerät, mit dem man ein Bild für beliebig kurze Zeit dem Auge darbieten kann.)

21 (Anm. der Übersetzer:isomorph: gleichgestaltig.)

22 (Anm. der Übersetzer:Synästhesie: Verknüpfung verschiedener Empfindungen, Miterregung eines Sinnesorgans, wenn ein anderes gereizt wird, z.B. Farben beim Hören, Klänge beim Sehen.)

23 Zuvor war eine gesteigerte physiologische Erregung in Reaktion auf Rot im Vergleich mit Blau gefunden worden (Gerard, 1958; Wilson, 1966). Smets berichtet dann, daß die Versuchspersonen Farben, Formen und verbale expressive Konzepte genau in der Art einander zuordneten, wie ihre Erregungsmuster zusammenhingen (die Erregung wurde über die Dauer der Desynchronisation der Alphawellen gemessen). Was Alphawellendesynchronisation bedeutet, ist natürlich noch eine andere Frage.

24 Zum Beispiel Tolstoi, 1899; Croce, 1915, Collingwood, 1938; außerdem einige andere, für die die Hauptaufgabe der künstlerischen Ausbildung es ist, Kindern beizubringen, sich auszudrücken (Read, 1943; Gardner, 1973). Aus dieser Sicht ist die Tatsache, daß die deutlich erkennbare Individualität von Kinderzeichnungen mit zunehmendem Alter abnimmt, notwendigerweise ein Zeichen dafür, daß die künstlerische Fähigkeit abgenommen hat. Doch hierzu sollten wir anmerken, daß diese Bewertung davon abhängt, welche Definition der künstlerischen Funktion betont wird.

25 (Anm. der Übersetzer:James-Langesche Theorie (um 1880): physiologischer Begründungsversuch des Gefühls und seiner Entstehung; Gefühle werden als Begleiterscheinungen vegetativer Vorgänge aufgefaßt (James) oder mit diesen selbst identifiziert (Lange).)

26 (Anm. der Übersetzer:Attribution: Zuschreibung (z.B. von Schuld u.ä.).)

27 (Anm. der Übersetzer:kortikal: die Gehirnrinde betreffend.)

28 (Anm. der Übersetzer:Anthropometrie: Lehre von den Maßverhältnissen des menschlichen Körpers.)

29 Zum Beispiel reagierten Christine und Fred Attneave zu einer früheren Fassung dieser Theorie wie folgt: “Was ist mit dem Vergnügen, der Freude, zum ersten Mal einen tiefblauen See zu sehen?” Ich halte es für wahrscheinlich, daß man solche Fragen klären kann, dies ist jedoch nicht der Ort, um das zu tun. Ein anderer problematischer Fragenkomplex befaßt sich damit, wieviel der Zuschauer/Zuhörer erwartet, in ein bestimmtes Schema einordnen zu können. Ein gewisser Teil eines jeden Kunstwerks (und insbesondere jener Kunstwerke, bei denen die Elemente unter der Kontrolle des Künstlers über einen Zeitraum hinweg präsentiert werden, wie das beispielsweise in der Musik, beim Tanz, in der Literatur und in Filmen der Fall ist) ist strukturelle Materie, und wird nur aus Gründen der Wirklichkeitstreue benötigt. Manches Material wird zu Ergebnissen führen und für die Endstruktur wichtig sein. Wenn wir die Effizienz eines Kunstwerks einschätzen wollen, müssen wir wahrscheinlich nicht seine ganze Komplexität in Betracht ziehen, sondern nur den Abschnitt, den der Zuschauer oder Zuhörer als Teil der Struktur betrachtet (mit anderen Worten seine subjektive Ergebnisstruktur). Bei Gemälden oder Zeichnungen zählt man nicht die Pinselstriche und die Linien in der Kreuzschattierung als einzelne Elemente, doch einige davon haben in jedem Falle eine spezielle Funktion im Design.